Die Digitalisierungsbranche litt unter den Krisen von 2001 und 2008. Im Jahr 2020 floriert sie. Aus Büroarbeit wird Remote Work. Papierbasierte Abläufe werden zu Online-Workflows. Fabriken und Lieferketten laufen dank der Automatisierung weiter. Wir sind dabei, einen 10-Jahres-Sprung in die Zukunft zu machen. Dies wird uns starke Produktivitätssteigerungen bescheren. Sogar unsere Covid-Kosten können wir auf diese Weise kompensieren.

Krisen erfordern Pionierleistungen und kein Schema F bei der Bewältigung

Im Frühjahr 2020 zirkulierte in der Tech-Branche ein Brief des Venture-Fonds Sequoia zur Covid-Krise. Es war «Schema F»: Erinnerungen an die Krisen 2001 und 2008 schwangen mit. Sequoia hat nahegelegt: Schliesst die Luken. Bereitet Euch auf den Sturm vor. Downsize.

Ich verstehe den Brief von Sequoia. Ich habe selbst von 1998 bis 2007 im Silicon Valley gelebt und gearbeitet und zwei Krisen durchgemacht. Die Dot-Com-Krise raffte im Silicon Valley fast alle Startups dahin. Strassen und Restaurants waren leergefegt, ähnlich wie in der Covid-Krise. Dazu kam der Schock von 9/11. Ich verliess meinen Arbeitgeber McKinsey & Co und sanierte ein Unternehmen. Ich verhandelte die Kostenbasis herunter, baute ein neues Produkt und zog Investitionen an.

Aus dieser Erfahrung heraus habe ich 2005 Zattoo gegründet. Ich machte Tempo. Unser Angebot stiess auf grosses Interesse. Wir bauten aus. Wir stellten ein. Wir waren eine kleine Sensation.

Die Finanzkrise 2008 kam unvermittelt. Alle Startups, nicht nur Zattoo, wurden ohne Vorwarnung getroffen, denn sie hatten nicht die Zeit, das Umfeld nach Makrobedrohungen zu scannen. Sie sind mit Nutzerwachstum, Produktdesign, Umsatzwachstum und dem Aufbau der Organisation vollends beschäftigt.

Da auf dem Markt kein Risikokapital mehr verfügbar war, habe ich im Januar 2009 sogar meine Wohnung in San Francisco verkauft, um die Content-Rechnung von Zattoo zu bezahlen. Das Geld lag etwa zwei Monate zwischen den USA und der Schweiz, da sich die Banken nicht mehr trauten. Ich konnte Aktien verpfänden, um Cash für die Firma aufzutreiben. Tamedia (jetzt TX Ventures) konnte ich überzeugen, einzusteigen. Mit Erfindergeist und Kostendisziplin konnten wir 2010 endlich Fuss fassen. Zattoo wuchs seitdem als KMU mit eigenen Mitteln jährlich etwa um 20-30%.

Nach der Überwindung dieser Krise habe ich den Verwaltungsrat von Zattoo aufgebaut. Ich habe mich als Präsidentin bis 2019 unter anderem der Aufgabe gewidmet, die Firma krisenresistent zu halten und Gefahrensignale mit Vorlauf zu erkennen. Ich habe Cash gehortet, um dem Unternehmen im Ernstfall helfen zu können. Die TX Gruppe hat im April 2019 die Mehrheit übernommen. Ich gab das Präsidium ab. Wir entwickeln die Gesellschaft gemeinsam weiter.

Als ich im Januar 2020 erstmals von Covid hörte, war ich zunächst verschreckt. Erinnerungen an 2001 und 2008 klangen an. Ich fragte mich: Wie kann Zattoo mit der drohenden Pandemie fertig werden? Es war zu erwarten, dass die Pandemie dazu führen würde, dass die Werbeindustrie ihre Ausgaben drosselt, verzögert, umbucht oder einstellt. Die Cloud-Systeme von Zattoo und der Telekommunikationsindustrie waren nicht darauf ausgelegt, über längere Zeiträume autonom zu laufen. Es waren sogar noch schlimmere Entwicklungen denkbar.

Ich befragte meine Bekannten, darunter eine Führungskraft von McKinsey&Co China im Februar 2020. Im Gespräch kamen wir auf einen prognostizierten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf -3 %, und das Schweizer BIP fiel tatsächlich auf etwa -3 %.  

Kurzfristig sah es noch bedrohlicher aus, aber es erholte sich im Laufe des Jahres 2020. Es erholte sich, weil wir dank Digitalisierung in der Lage waren, weiter zu arbeiten. Es gab keine Notwendigkeit für ein Notprogramm bei Zattoo oder vielen Tech-Unternehmen. Im Gegenteil: Die Tech-Branche boomte.

Digitalisierung als Lichtblick in einem dunklen Krisenjahr

Auf kurze Zeit gesehen werden Innovationen überschätzt. Die Dot-Com-Krise 2001 war sozusagen eine Krise der Ernüchterung. Langfristig aber werden Innovationen unterschätzt. Im Jahr 2020 haben wir dank der Digitalisierung soeben die erste Krise durchlebt, in der wir von Robotern weich gebettet wurden: ein Moment für die Geschichtsbücher.

Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Verteidigung, Finanzen, Verkehr und Energie waren im 2020 krisenresistenter dank Digitalisierung. Die Digitalisierung steht endlich in voller Blüte:

  • Es gibt einen massiven Bedarf an dringenden Digitalisierungsprojekten in Wirtschaft und Verwaltung
  • Wir rüsten alle unsere IT zu Hause auf, Apple, Google und Microsoft boomen
  • Digitalisierung hält Einzug in die Schulen  
  • Dank Warenwirtschaftssystemen, Produktionsautomatisierung und Logistik bleiben unsere Regale gut gefüllt. Pakete kommen an. Bezahlt wird kontaktlos. 
  • Remote Work hilft uns, zu Hause gesund zu bleiben und weiter zu arbeiten
  • Soziale Medien ermöglichen es uns, Sorgen zu teilen, Ärger Luft zu machen, Trost zu spenden und Perspektiven zu diskutieren: Eine sehr wichtige Funktion. 
  • Wenn Live-Performances wegen einem Lockdown eingeschränkt sind, werden wir dafür mit Online-Videos gut unterhalten.

Die Pfeiler der Digitalisierung bilden Remote Work und Online-Workflows, die in der Cloud abgebildet werden, sowie der Online-Handel.

Die Cloud erlaubt gemeinsames Arbeiten an Briefen, Präsentationen, Tabellenkalkulationen und anderen Dingen. Sie entlastet uns von der Server-Administration und sorgt für eine bessere Lastverteilung und höhere Verfügbarkeit, als wenn wir die Server selbst administrieren würden.

Die Cloud wächst rasant. Büroarbeit wird zunehmend auf Google Docs oder mit Microsoft Office 365 in der Cloud erledigt. Privat nutzen inzwischen über eine Milliarde Menschen die Apple Cloud. Für alle Lasten, die elastisch oder schwankend sind, und für alle Werkstücke, die von mehreren Akteuren gleichzeitig bearbeitet werden, macht die Cloud Sinn.

Zattoo selbst bietet Beispiele für Cloud-Dienste: Anstatt Recordings lokal zu speichern, greifen unsere Zuschauer auf unsere Cloud zu. Von vielen Aufnahmen, die alle gleich wären, braucht es im Idealfall nur eine Masterkopie. Das spart Geld. Auch unsere B2B-Kundenbasis (Telekommunikations- und Kabelunternehmen) nutzt Cloud-Dienste: Statt TV-Signale von Satelliten über sogenannte Kopfstellen selbst einzuspeisen, nutzen sie unseren Cloud-Service. Von vielen Tausend Kopfstationen in Europa, welche alle ungefähr das Gleiche machen, wird es letztlich noch eine Handvoll in der Cloud brauchen. Da jede Kopfstation eine Investition von etwa 10 Mio. CHF und laufende Kosten verursacht, spart das eine Menge Geld. 

Online-Handel und Lieferdienste wachsen stark und nachhaltig. Haben Nutzer mit alten Gewohnheiten einmal gebrochen, ein Benutzerkonto eröffnet und online bestellt, ist es für sie ein Leichtes, den vorkonfigurierten Warenkorb nochmals zu bestellen. Hat man das neue Verhalten einmal eingeübt, bleibt man dabei. 

Digitalisierung kann unsere Covid-Kosten aufwiegen

Das BIP sank im Jahr 2020 um 25 Mrd. CHF; 2021 wird es steigen. Aus der Bundeskasse floss eine Kapitalspritze von 70 Mrd. CHF. Nehmen wir diese Summe als Massstab und ignorieren, wie dieses Geld aus der Wirtschaft wieder beim Staat landet, denn das tut es früher oder später. Prüfen wir, ob wir sie in 10 Jahren wettmachen können: Das entspräche 7 Mrd. CHF pro Jahr, oder 1% des Bruttosozialprodukts in der Schweiz von ca 700 Mrd. CHF.

Das geht: Bei angenommenen 700’000 Mitarbeitenden in Remote Work macht das 10’000 CHF pro Kopf und Jahr. Einsparungen können wir in diesen Bereichen erzielen:

  • Insbesondere in den städtischen Ballungszentren wird ein im internationalen Vergleich hoher Anteil des Salärs im Immobilienmarkt versenkt. Diese Kosten sollten sich etwas entspannen (ohne Inflation).
  • Weniger Pendlerbewegungen entlasten die Verkehrswege. Das entspannt die Investitionen in die Infrastruktur (vorausgesetzt, wir nutzen wieder den öffentlichen Verkehr).
  • Durch Digitalisierung von Geschäftsvorgängen verringern wir Transaktionskosten und legen an Tempo in der Wirtschaft zu.
  • Remote Work ermöglicht Spezialisierung von Ressourcen und erhöht die Qualität bei tieferen Kosten.

Für die Schweiz kann Remote Working die Rettung aus unserer geografischen Enge sein. Angestellte können in der ganzen Schweiz oder auch im Ausland geografisch verteilt sein. Wir brauchen uns bei der Rekrutierung nicht mehr auf einen 100km Kreis um den Arbeitsplatz zu beschränken. Remote Work öffnet einen grösseren Kandidatenpool für die Rekrutierung und fördert Diversität und Spezialisierung. Damit wird es auch günstiger, in der Schweiz ein Startup zu gründen.

Remote Work erhöht die Mitarbeiterzufriedenheit. Deloitte-Schweiz Studien aus den Jahren 2020 und 2021 zeigen: Mitarbeiter wollen mehrheitlich hybrid arbeiten und keinesfalls die Vorteile des Remote Working aufgeben. Mitarbeiter hatten erheblichen Zeitverlust beim Pendeln – diese Last wollen sie nicht mehr tragen. Sie geniessen die Freiheit, an Orten mit niedrigen Kosten und hoher Lebensqualität zu arbeiten – das eröffnet neue Perspektiven. Sie sparen Zeit durch weniger obligatorische Geschäftsreisen. Frauen erleichtert Remote Work den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt durch die Möglichkeit, ihre Zeit gleitend zwischen Büro und Zuhause aufzuteilen.

Die Präferenzen betreffend Remote Work liegen nicht über alle Altersgruppen gleich, und sie unterscheiden sich auch zwischen Industrien und Ländern. In Japan ist der Verlust der Präsenzkultur eine grosse Herausforderung. Eine Anekdote aus Japan wurde mir zugetragen: Sagt der Chef «Was kann ich mit den zwei Assistenten machen? Darf ich sie nach Hause nehmen?» Dieser Chef hatte noch nie eine Videokonferenz von zu Hause organisiert. Das wurde immer im Büro von Spezialisten erledigt. Für traditionelle Chefs ist Remote Work eine Herausforderung.

Die IT-Branche ist Vorreiter bei Remote Work – andere Branchen ziehen nach

Es gab auch schon andere Zeiten: 2013 versuchte die damalige Chefin von Yahoo, Marissa Mayer, die Mitarbeiter von Remote Work wegzubringen. Innovation, meinte sie, geschieht im Dampfkochtopf des Entwicklungszentrums von Yahoo im Silicon Valley. Sie sah Innovation als Kontaktsport. Innovation ist inzwischen online möglich, weil die Arbeitsmittel besser geworden sind.

Die IT-Branche ergreift inzwischen die Chance, den Mitarbeitern mit Remote Work attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten. Sie ist mit Abstand am besten darauf vorbereitet. Andere Branchen entdecken nun auch: Remote Work funktioniert. Die Sicherheit ist besser als befürchtet. Aus dem Private-Banking ist bisher kein Skandal bekannt.

Corona hat mehr getan, um die Digitalisierung der Schweiz zu beschleunigen, als alle digitalen Initiativen, die wir bisher hatten. Von vielleicht 10’000 Remote Work-Arbeitsplätzen in der Schweiz vor der Covid-Krise haben wir einen Sprung auf über 1 Million Remote Work-Arbeitsplätze gemacht (bei einer Gesamtbelegschaft von fast 5 Millionen). Wenn wir von 700’000 solcher Arbeitsplätze über die nächsten 10 Jahre sprechen, verstehen wir die Grössenordnung des Wandels. 

Die Initiative digitalswitzerland, die Wissenschaftsinitiative CH++,  Open Data Schweiz, der Branchenverband ASUT und weitere können uns helfen, den Schwung aus der Covid-Digitalisierung mitzunehmen. Sie können mit Inspiration und Know-how-Transfer zum Florieren der Schweiz beitragen.

“Culture eats Strategy for breakfast”

Wir kennen das: eine clevere Strategie wird verkündet, und wir foutieren uns darum, weil wir es anders mögen. Macht unsere Macht der Gewohnheit nun die Vorteile der COVID-Digitalisierung zunichte? Kehren wir zu Feld 1 zurück?

Beginnen wir mit uns selbst. Wir haben gelernt, wie man sich im Home-Office organisiert. Ideal wäre ein Zoom-Raum. Wir haben gelernt, Essen zu kochen, Samen zu pflanzen, Brot zu backen. Ideal wäre ein eigener Garten. Wir reisen mehr individuell, weniger in Gruppen. Ideal wäre ein Camper.

Wir improvisieren in der Art und Weise, wie wir unterrichten. Ideal wäre ein altersgerechter Mix aus Präsenz- und Online-Unterricht:

  • Für  Kindergartenkinder und Primarschüler bleibt die persönliche Interaktion wichtig. Präsenzunterricht wird dominieren, aber nicht mehr so starr wie bisher. Online-Lehrmittel komplementieren ihn. Kinder nutzen gerne iPads und lernen spielerisch damit.
  • Auf höheren Stufen wird es immer wichtiger, die besten Lehrmittel einzusetzen. Sie erlauben interaktives Lernen und komplementieren den Frontalunterricht, zum Beispiel mit Werkzeugen wie Mathematica oder mit der Khan Academy.

Vielleicht sagen wir uns: «mein Aktiendepot ist gestiegen, meine Immobilie ist jetzt mehr wert, ich brauche mir die neue Arbeitswelt nicht mehr anzutun.» Oder wir wurden ruiniert und können nicht mehr. Durch die Covid-Krise scheiden vor allem ältere Arbeitnehmer aus dem Berufsleben aus. 

Damit wir die Vorteile der Digitalisierung nutzen können, müssen wir uns von der Gewohnheit verabschieden, in altmodische Büros zurückzukehren, in denen wir Kopfhörer tragen, um konzentriert zu arbeiten. Lasst uns stattdessen Büros neu erfinden und die Möglichkeit des Remote Working nutzen, die uns in der Covid-Krise gut gedient hat. 

Über Bea Knecht

Bea Knecht digitalisiert mit ihren Gründungen Zattoo, Genistat und Levuro Mediendienstleistungen. Genistat beschäftigt Experten für Media Data Science. Levuro beschäftigt Experten für Social Media Engagement. Wingman ist ein VC Fonds, den sie unterstützt: Von Unternehmern, für Unternehmer. Bea Knecht wirkt im Vorstand der Gesellschaft für Marketing und von CH++ und ist Mitglied der Eidgenössischen Medienkommission. Sie ist Empfängerin des IAB Lifetime Award, des Best of Swiss Web Award und des Emmy Award.