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#herHACK – female-led hackathon

Abstrakt

Der geringe Frauenanteil in den sogenannten MINT-Disziplinen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist seit Jahrzehnten Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Studien der letzten 10 Jahre widmeten sich vor allem der Untersuchung gesellschaftlicher Einflüsse, insbesondere von Stereotypen und den daraus resultierenden Vorurteilen von Frauen gegenüber MINT-Berufen. Viele dieser Studien stimmen darin überein, dass Mädchen im Alter von 10 bis 15 Jahren in ihrem Interesse an MINT-Berufen besonders beeinflusst werden können, sowohl positiv als auch negativ. In einem 2020 veröffentlichten Literatur-Review der Autorin1 des vorliegenden Whitepapers konnten Interesse, Zugehörigkeitsgefühl und Selbstwirksamkeit als wichtige Antriebsfaktoren identifiziert werden. Vor allem in Studiengängen und Berufen in der Informatik ist der Partizipations-Unterschied zwischen den Geschlechtern besonders gross. Mit der Einführung des Moduls “Medien und Informatik” im Rahmen des “Lehrplan 21” in allen Deutschschweizer Kantonen und der “Éducation numérique” für die französischsprachigen Kantone im Jahr 2021 gab es erstmals eine gemeinsame Grundlage zur Formulierung von Kompetenzen für die Informatik. Dennoch ist die Anzahl der Stunden, in denen sich Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer obligatorischen Schulzeit mit Informatikinhalten beschäftigen können, sehr gering. Zudem ist die Vermittlung dieser Inhalte für die meisten Lehrpersonen neu und daher eine grosse Herausforderung. Folglich spielen ausserschulische Angebote eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von zukunftsträchtigen und interessengeleiteten MINT- und vor allem Informatikkenntnissen. In diesem Zusammenhang ist der Erfahrungsaustausch über “Best/Good-Practices”-Angebote oder auch Misserfolge sehr wertvoll. Basierend auf neuen Erkenntnissen aus der Literatur der letzten Jahre, einer Umfrage mit Vertreter:innen verschiedener MINT-Förderinitiativen in der Schweiz und Fokusgruppendiskussionen mit der Zielgruppe Mädchen sollen in diesem Bericht anwendbare und geschlechtersensible Empfehlungen für MINT-Aktivitäten vorgestellt werden.

Keywords: Gender, Gendersensibilität, MINT, Empfehlungen, ausserschulische MINT-Angebote

1 Einleitung

In der Schweiz ist der Frauenanteil in der Informatik, wie in den meisten Industrieländern, alarmierend niedrig. Von 2010 bis 2020 stieg der Anteil der Frauen in der IKT-Branche (Informations- und Kommunikationstechnik) um lediglich zwei Prozent, von 15,9% auf 17,9% (SAKE, 2020). Ähnliche Zahlen spiegelt auch der Bildungsbericht Schweiz wider, der auf Daten der OECD beruht (siehe Abbildung 1). Eine geringe Partizipation von Frauen wird auch in der von Comitas in Zusammenarbeit mit SATW und CSNOW durchgeführten Studie “Frauen in der IT” (2021) verdeutlicht. Eine von der Jobvermittlung Honeypot 2018 veröffentlichte Studie zeigt weiter, dass Frauen in IT-Berufen in der Schweiz 22% weniger als Männer verdienen. “Gerade einmal 8 Prozent der Informatiklehrlinge sind weiblich”, schreibt die NZZ in einem Beitrag 2021. Des Weiteren schätzt der Verein ICT-Berufsbildung Schweiz, dass bis 2030 rund 119’600 IKT-Fachkräfte benötigt werden, was einem Nettobedarf von knapp 40’000 entspricht (IWSB, 2020).

Abbildung 1: Frauenanteil MINT-Abschlüsse, Bildungsbericht Schweiz, 2018, S. 199

Auch an den Hochschulen ist der Frauenanteil, insbesondere in Technik und Informatik, sehr gering. Am Institut für Informatik der Universität Zürich (IfI) beträgt der Frauenanteil beispielsweise knapp über 20% (UZH, 2022). Laut einem Interview mit Sarah Springman, ehemaliger Rektorin der ETH Zürich, verfügt die Studentenschaft der ETH zwar insgesamt über einen Frauenanteil von 30%, bei den klassischen Ingenieurwissenschaften wie Maschinenbau, Informatik und Elektrotechnik sind Studentinnen jedoch deutlich in der Minderzahl: Je nach Studiengang machen diese  nur 12 bis 20% aus (ETH, 2020).

In vielen Medienberichten der letzten Jahre wird von der Notwendigkeit weiblicher Vorbilder gesprochen, um die Sichtbarkeit von Frauen in technischen Berufen zu erhöhen und das Berufsbild zugänglicher zu machen. Initiativen wie die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW/Swiss TecLadies2), dem Coding Club for Girls3 der EPFL oder der Initiative IT-Feuer4 und IngCH5  stützen diese Aussage. Vorurteile und das Imageproblem der IKT-Branche sind weitere häufig angesprochene Probleme. Um diesen entgegenzuwirken, hat beispielsweise die Ostschweizer Fachhochschule in verschiedenen Kurzvideos mit aktuellen und ehemaligen Studierenden einige der Vorurteile genauer betrachtet (OST, n.d.). Laut der Genossenschaft des Schweizerischen Medieninstituts für Bildung und Kultur6 scheitert das Engagement von Frauen in der IKT-Branche nicht nur an den persönlichen Neigungen, sondern auch an den beruflichen Perspektiven, die sich jungen Frauen in diesem Berufsfeld bieten.

Abbildung 2 zeigt eine Reihe möglicher Einflussfaktoren, die eine spätere Berufs- oder Studienwahl prägen. Bei Schülerinnen im Alter von 10 bis 15 Jahren fehlt oft der Zugang zu technischen Themen oder das Selbstbewusstsein, sich dafür interessieren zu dürfen. Neugier und Begeisterung für dieses Thema zu erwecken und dass Mädchen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Jungen zu Programmiererinnen, Ingenieurinnen und UI-Designerinnen werden – das ist das Ziel.

Abbildung 2: Unterschiedliche Einflussfaktoren, die eine Berufs-/Studienwahl beeinflussen können (Spieler, Oates-Induchovà und Slany, 2020)

Ziel des vorliegenden Berichts ist es, erste Empfehlungen, die auf der Grundlage der eingangs erwähnten Literaturübersicht (Spieler, Oates-Induchovà und Slany, 2020) erarbeitet wurden, zu aktualisieren und mit praktischen Beispielen, insbesondere für den ausserschulischen MINT-Bereich der Schweiz, zu erweitern. Zu diesem Zweck werden auf neueste Erkenntnisse aus der Literatur Bezug genommen, sowie Schweizer Initiativen und die Zielgruppe selbst einbezogen. Dies soll ein erster Schritt zu einer Bündelung von Empfehlungen sein, aber auch ein Anstoss, um (neue) Fragen und Herausforderungen zu diskutieren.

2 Literarischer Rahmen

In den letzten Jahren sind zahlreiche Einzelprojekte und Initiativen entstanden, die sich explizit an junge Mädchen in der Informatik richten. Zusätzlich werden in interdisziplinären Forschungsprojekten und seitens des Schweizer Parlaments7 Ansätze untersucht, um die aktuelle Situation von Frauen in den MINT-Bereichen positiv zu verändern. In diesen verschiedenen Studien und Projekten zeichnen sich zunehmend bestimmte Merkmale ab, die in diesem Kapitel behandelt werden. Viele der genannten Studien beziehen sich auf die Informatik, da hier der grösste Unterstützungsbedarf besteht. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass vieles davon auf den gesamten MINT-Bereich übertragen werden kann.

2.1 Niedrigschwellige Angebote für verschiedene Altersgruppen (ausserschulisch)

Die Berufs-/Studienwahl im Allgemeinen ist eine vielschichtige Entscheidung, die von verschiedenen Faktoren oder Ereignissen beeinflusst wird. Obwohl einige der Entscheidungsfaktoren offensichtlich ausserhalb der Kontrolle von Pädagog:innen liegen, z. B. der Hintergrund der Schüler:innen (Haushaltseinkommen, kultureller Hintergrund) oder die Ansichten und Präferenzen der Familienmitglieder, können viele andere Faktoren, etwa Beratungsprogramme für Schülerinnen oder eigene Angebote für Mädchen, gezielt platziert werden. Verschiedene Studien kamen zum Schluss, dass die deutlichsten Ergebnisse hinsichtlich des Interesses an MINT mit Förderprogrammen erzielt wurden, die Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg begleiten (Wang et al., 2015; McGill et al., 2016). Zusätzlich kann eine frühe Beschäftigung mit der Informatik die Selbstwirksamkeit und die schulischen Leistungen stärken sowie das Interesse fördern (Hidi und Renninger, 2006; Wang et al., 2015; Happe et al., 2020). Eine Studie von Antti-Jussi und Karkkainen (2019) weist auch auf die positiven und langfristigen Auswirkungen von ausserschulischen Informatikinitiativen hin, welche Schüler:innen an Informatik-Themen heranführen und kreatives “Computational Thinking (CT, dt: Informatisches Denken)” fördern, beispielsweise durch Problemlösung oder Spieldesign. Im Allgemeinen zeigt die Studie, dass sich ausserschulische Programme spezifisch für Mädchen positiv auf ihre weiteren Bildungsentscheidungen auswirken, da ihr Vertrauen in ein Informatikstudium weiter gestärkt wird oder sich ihre Einstellung gegenüber der Informatik positiv verändern könnte (ebd.). Auf der Grundlage der in der genannten Studie durchgeführten 20 Interviews (2-5 Jahre nach der Intervention) wurden allgemeine Kategorien zusammengefasst, welche die langfristigen Effekte einer ausserschulischen Intervention im Bereich Informatik beschreiben:

a) Die Intervention hat Informatik als die zukünftige Karriereoption bestätigt (6 Teilnehmerinnen).

Teilnehmerinnen, die sich durch die Intervention bestätigt oder ermutigt fühlten, eine Karriere in der Informatik anzustreben, nannten folgende Punkte als ausschlaggebend: etwas Neues zu erschaffen, Spiele mit der eigenen Identität zu verbinden (z. B. sich auf die Elemente zu konzentrieren, die zur Community und zur Spielkultur beitragen) und die Informatik als Impulsgeber zu sehen, welche kreative Aktivitäten ermöglicht und fördert.

b) Die Intervention hat Informatik als eine zukünftige Karriereoption aufgezeigt (5 Teilnehmerinnen).

Für diese Teilnehmerinnen waren die Intervention und die dazugehörigen neuen Informationen und Erfahrungen ausschlaggebend dafür, dass sie sich für ein Studium in der Informatik entschieden haben. Als wichtig wurde auch die physische Präsenz in einem Universitätsgebäude angesehen (mit Blick auf die Frage: Wie ist es, hier zu studieren?). Diese Gruppe zeichnete sich dadurch aus, dass sie nicht selbständig in diesem Bereich experimentiert hätten und auch keine Familienangehörigen haben, welche bereits im Bereich der Informatik tätig sind. Grundsätzlich war das Elternhaus aber offen für neue Technologien.

c) Die Intervention hatte keinen signifikanten Einfluss auf die Karrierepläne der Teilnehmerinnen und sie haben Informatik nicht als Hauptfach gewählt (6 Teilnehmerinnen).

Hier konnten Teilnehmerinnen eingeordnet werden, deren Zukunftspläne in Richtung Informatik sich durch den Kurs nicht wesentlich verändert haben. Die Motivation für die Teilnahme schwankte zwischen “ich möchte experimentieren/etwas Neues ausprobieren”, praktischen Gründen (Beschäftigung im Sommer) oder sie sahen auch den Nutzen dahinter (z.B. den Vorteil, dass sie selbst eine Webseite erstellen können). Der Kurs hat sie jedoch nicht darin bestärkt, Informatik als eine Möglichkeit für einen zukünftigen Beruf zu sehen.

d) Die Intervention bestätigte sie darin, dass Informatik keine interessante Karriereoption ist (3 Teilnehmerinnen).

Für diese Teilnehmerinnen war es eher eine Bestätigung, dass sie Informatik nicht als Hauptfach studieren werden. Der Kurs half ihnen jedoch, das Programmieren grundsätzlich zu verstehen und einige ihrer falschen Vorstellungen bzw. Vorurteile gegenüber der Informatik abzulegen. So erkannte zum Beispiel eine Teilnehmerin, dass “Programmieren nicht mein Ding ist”.

2.2 Strategien zur Steigerung des Interesses (in Schulen)

Dass informatische Inhalte jedoch nur ausserschulisch eine Wirkung erzielen, kann auch nicht zielführend sein. Kinder und Jugendliche könnten aus verschiedenen Gründen von solchen Angeboten ausgeschlossen sein (wie Kinder in ländlichen Gebieten, hohe Kosten oder einseitige Ausrichtung auf eine bestimmte Zielgruppe, z. B. mit Vorkenntnissen usw.). Daher ist es ebenso notwendig, Lehrkräfte zu ermutigen, verschiedene Informatikinhalte spielerisch und frühzeitig im Unterricht einzuführen. Happe et al. (2020) haben die Ergebnisse von mehr als 800 Veröffentlichungen zusammengefasst, um Lehrpersonen eine umfassende und leicht zu navigierende Karte von Möglichkeiten an die Hand zu geben. Sie haben die folgenden übergreifenden Strategien entwickelt, welche sich vermehrt in Initiativen für Mädchen widerspiegeln:

Die Stiftung Pro Juventute hat zusätzliche Tipps für Eltern auf ihrer Seite zusammengefasst (projuventute.ch, n.a.): 

Die untersuchten Artikel von Happe et al. (2020) fassen zusätzlich zusammen, was in unterschiedlichen Interventionen unternommen wurde, um das Interesse von Mädchen an der Informatik zu steigern. Es wurden sechs Kernpunkte identifiziert, um die Informatik für diese Zielgruppe interessanter zu gestalten: Falsche Stereotypen aufbrechen, motivieren und erstes Interesse wecken, einen positiven und angemessenen ersten Kontakt zu informatischen Themen herstellen, ein sicheres Lernumfeld herstellen, Aufbau von Selbstvertrauen und Aufrechterhaltung eines langfristigen Interesses.

Shernoff et al. (2003) verweist zusätzlich auf weitere Gründe, welche für das allgemeine Interesse am und ein Engagement im Unterricht entscheidend sind: herausfordernde Inhalte, Erlernen von neuen Fertigkeiten und Relevanz des Unterrichts. In Verbindung mit dem Flow-Konzept von Csikszentmihalyi (1993) ist es von entscheidender Bedeutung, eine Aktivität nicht zu schwierig oder zu leicht zu gestalten, sondern genau die richtige Balance (im Sinne von Engagement) zu erreichen. Dazu zeigt auch eine kürzlich veröffentlichte Studie von Vrieler, Nylen und Cajander (2021) mit 115 Jungen und 39 Mädchen im Alter von 9 bis 16 Jahren (Mitglieder eines Informatik-Clubs), dass ein breites Verständnis von Informatik und persönlichem Interesse entscheidende Aspekte für die Teilnahme von Mädchen an solchen Kursen sind. Dies alleine reiche aber nicht dazu aus, dass Mädchen auch tatsächlich im Bereich der Informatik studieren oder arbeiten. Hier wird auf die wichtige Rolle der Lehrkräfte verwiesen und darauf, dass Lehrpersonen sich vielseitiger Motivatoren im Informatikunterricht bedienen müssen, die die Ambitionen von Mädchen für die Informatik fördern können.

2.3 Hervorhebung von kreativen und interdisziplinären Möglichkeiten

Pinkard et al. (2017) konzentrierten sich vor allem auf Mädchen, die ursprünglich kein Interesse an MINT-Fächern zeigen. Diese einjährige Studie untersuchte Mädchen in der Mittelstufe, die an Aktivitäten teilnahmen, welche sich auf Design, Technik und Informatik spezialisierten. Die Ergebnisse zeigen, dass ein abwechslungsreiches Lernprogramm, welches sich an Elementen des “Storytellings” bedient sowie interdisziplinäre Aufgaben ein grosses Potenzial aufzeigen, bei Mädchen ein Verständnis für MINT-Fähigkeiten aufzubauen und ihre Identität mit diesen Fächern und Interessen dahingehend zu stärken. Ihr entwickeltes Programm für den Unterricht “Digital Youth Diva” (DYD) bediente sich daher unterschiedlicher Elemente, wie zum Beispiel Design Challenges, die auf einer spannenden Geschichte aufbauten (und nicht-stereotypisierte Charaktere stärkt). Des Weiteren wurden die persönlichen Vorlieben der Mädchen berücksichtigt, die Aktivitäten von weiblichen Mentorinnen und Mentorinnen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund begleitet und Interaktionen mit weiblichen Gleichaltrigen ermöglicht. Zusätzlich wurde eine Online-Plattform eingesetzt, damit Kinder sich auch über den Unterricht hinweg austauschen konnten, indem ein eigenes Profil zur Personalisierung/Darstellung nach aussen im Zusammenhang mit “MINT-Errungenschaften” (wie Badges) präsentiert werden konnte.

In Happe et al. (2020) wird zusätzlich auf unterschiedliche Problemlösungsstrategien hingewiesen: Mädchen definieren ein Problem breiter (sehen das Gesamtbild), während Jungen das Problem isolierter angehen, indem sie gewisse Aspekte ausschliessen. Mädchen scheinen daher häufiger “stecken zu bleiben” und sich unwohl zu fühlen, wenn sie mit Zeitdruck konfrontiert werden (wollen sie doch jedes Detail berücksichtigen). Hier ist zu beachten, dass sich nicht alle Mädchen gleich verhalten. Hier handelt es sich um eine Differenzierung auf Basis des “Strategischen Essenzialismus” (Spivak, 1990), um die Aufmerksamkeit auf die dauerhafte Wirksamkeit sozial konstruierter Kategorien zu lenken. Die Autor:innen (ebd.) zitieren Annis und Nesbitt (2017), die feststellten, dass eine Kombination aus beiden Problemlösungsstrategien am effektivsten ist. Demnach werden Mädchen und Frauen ein ganzheitliches Denken sowie die Fähigkeit zugeschrieben, viele Informationen zu komplexen Mustern zuzuordnen und mehr Zusammenhänge zwischen diesen Mustern zu erkennen. Mustererkennung oder Fähigkeiten der Abstraktion lassen sich unter dem Oberbegriff “Computational Thinking” (CT) zusammenfassen. Diese Form von informatischem Denken wird als ein menschlicher Problemlösungsprozess verstanden, der sich der Dekomposition bedient und ein Denken auf mehreren Abstraktionsebenen erfordert (Wing, 2006). Es ist weithin anerkannt, dass CT eine grundlegende Fähigkeit ist, um sich in der heutigen technologischen Gesellschaft zurechtzufinden (Shute, Sun und Asbell-Clarke, 2017). Die Autor:innen verweisen darauf, dass eine eher multidisziplinäre Anwendung im Informatikunterricht derzeit nur wenig Platz findet. In der Volksschule liegt das auch daran, dass die Lehrer:innen meist nur die Grundlagen kennen und noch ein sehr begrenztes Bild davon haben, wie und was in der Informatik tatsächlich unterrichtet werden kann. Dieses Bild ist auch bei den Studierenden an den Pädagogischen Hochschulen sehr präsent (Spieler, Schifferle und Berner, 2022; Zaugg und Gumpert, 2022). 

2.4 Sensibilität und Geschlechterbewusstsein

In der Literaturübersicht von Happe et al. (2020) wird weiter darauf verwiesen, dass Lehrkräfte bestimmte gendersensible Richtlinien für die Lehrplangestaltung benötigen. Meist liegt es aber an mangelndem Bewusstsein der Lehrkräfte hinsichtlich dieser Themen und einem Blick dafür, wie man die Vielfalt der Schüler:innen im Informatikunterricht nutzen kann. Vor allem im Informatikunterricht ist es wichtig, eine männliche Heteronomie zu vermeiden. Dies geht auch damit einher, dass Lehrer:innen ein Lernumfeld schaffen sollten, das männliche Schüler nicht begünstigt. Dies könnte dazu führen, dass sich viele Mädchen weniger kompetent im Informatikunterricht fühlen. Generell entstehen Geschlechterstereotype durch die Beobachtung von Frauen und Männern in unterschiedlichen sozialen Rollen und rollengebundenen Aktivitäten (Eagly und Wood, 2012; Koenig und Eagly, 2014). Eine Reihe von Studien zeigt auf, dass Lehrer:innen Jungen eher mit den Begriffen Logik, Wettbewerb und Unabhängigkeit assoziieren als Mädchen (Fennema et al., 1990; Tiedemann, 2000, 2002; Gentrup und Rjosk, 2018; Steinmayr und Kessels, 2019), dass diese geschlechtsspezifische Vorurteile im Klassenzimmer implizit vermittelt werden (Keller, 2001) und die Einstellungen und die Motivation der Schüler:innen prägen (Seegers und Boekaerts, 1996, Galdi et al., 2014). Makarova, Aeschlimann und Herzog (2019) stellten das Image verschiedener Fächer an Schweizer Gymnasien dar. Als Ergebnis waren aus der Perspektive der Schülerinnen vor allem die Fächer Mathematik und Physik stark mit dem männlichen Geschlecht assoziiert. Dies verweist auf einen Gender-Bias im Image der Naturwissenschaften. In einem weiteren Schritt wurden geschlechterbezogene Überzeugungen von weiblichen Lehrerinnen zu Mathe erfragt (Lindner, Makarova, Bernhard und Brovelli, 2022).  Hier waren u.a. die folgenden Aussagen signifikant: “Im Vergleich zu Mädchen sind Jungen beliebter aufgrund ihres Erfolges im Fach Mathematik.” und “Jungen interessieren sich mehr als Mädchen für Karrieren, die mathematische Fähigkeiten erfordern.” 

In einem Artikel der Autorin aus dem Jahre 2020 (Spieler und Girvan, 2020), wird dieser Punkt unter dem Aspekt der “geschlechtersensiblen Pädagogik” thematisiert: Während der Lehrplan weitgehend geschlechtsneutral sein mag, können die Lehrer und Lehrerinnen selbst implizite oder explizite geschlechtsspezifische Vorurteile verinnerlicht haben (Stoet und Geary, 2018). Niemand ist frei von Vorurteilen. Wichtig sei es, vorurteilsbewusst zu agieren. Im Jahre 1995 definierte Connell den Begriff “hegemoniale Männlichkeit” und beschrieb damit, dass die Gesellschaft hauptsächlich Männer mit Macht und wirtschaftlicher Leistung verbindet (Connell, 1995). Die “Nerd-Identität” in der Informatik repräsentiere die Fachkompetenz im Umgang mit Computern als eine Form der männlichen Fähigkeit. Die Literatur zeigt, dass viele Materialien im Unterricht nicht geschlechtsneutral sind und eine männlich-zentrierte Repräsentation in Bild und Sprache verwenden (Medel und Pournaghsband, 2017). Zusätzlich analysierten Wenger und Makarova (2019) drei Schulbücher der Hep- und Klett-Verlage zu den Fächern Physik und Chemie. Im Singular wurde dabei in über 90% der Fälle ausschliesslich die männliche Schreibweise verwendet und nur 4% des Bildmaterials zeigte Frauen (Herzog, Makarova und Fanger, 2019). Aussagen von befragten Schülerinnen bestätigen die Relevanz von weiblichen Vorbildern in Lehrmitteln. 

Auch andere Studien weisen auf die Wichtigkeit hin, ein realistisches Bild von Frauen in der Technik (daher echte Vorbilder) zu zeigen und Frauen sichtbar und hörbar darzustellen (z.B. Formanowicz et al., 2015). Eine Sprachsensibilität ist vor allem in Sprachen mit geschlechtsspezifischen Substantiven wie Deutsch oder Italienisch wichtig, um alle gleichermassen anzusprechen. Wetschanow (2008) verweist darauf, dass die Sprache ein wichtiges und machtvolles Mittel zur Herstellung von “Geschlecht” darstellt.

In der Praxis bedeutet eine geschlechtersensible Pädagogik: Kinder zu inspirieren, ihre eigene Lernsituation zu erforschen und zu gestalten (Cuesta und Witt, 2014), des Weiteren: leistungsbezogenes Lob, Reflexion der gegebenen Aufmerksamkeit, Interventionen in der Projektphasen und Gestaltung “geschlechtsneutraler” Aufgaben (Wang, Eccles und Kenny, 2013). Dieser Aspekt wird auch in den Empfehlungen (siehe Kapitel 5) weiter ausformuliert. Darüber hinaus sollen Lehrer:innen Diskussionen und Dialoge anregen, die sich auf individuelle Erfahrungen und Verständnis konzentrieren. So können “sichere” Umgebungen geschaffen werden, für jene, mit geringer Vorkenntnis in Informatik. Des Weiteren hätten viele Kinder eine unrealistische Vorstellung von technischen Berufen. Dies beeinträchtigt die Selbstwirksamkeit der Kinder (Master, Sapna und Meltzoff, 2016; Alvarado, Coa und Minnes, 2017).

Buhnova und Happe (2020) haben in einem weiteren Literaturreview nötige Praktiken zur Schaffung eines “mädchenfreundlichen Informatikunterrichts” zusammengefasst. Darüber hinaus sammelten sie Erfahrungen aus der Praxis (ihre eigenen Kurse mit Mädchen). Sie kamen zu den folgenden Erkenntnissen:

Die Tatsache, dass Mädchen ein sichereres Umfeld ohne Druck, Wettbewerb und mit mehr Zeit für die Erledigung ihrer Aufgaben bevorzugen, könnte von der Lehrkraft dahingehend fehlinterpretiert werden, dass diese Mädchen schwächer sind, obwohl dies lediglich eine andere Arbeitsweise oder Herangehensweise zeigen (Buhnova und Happe 2020).

3 digitalswitzerland und MINT-Initiativen in der Schweiz

Als Standortinitative mit knapp 200 Mitgliedern aus der IKT- und Tech-Branche setzt sich digitalswitzerland für die Beseitigung des Fachkräftemangels in der IKT ein. Die Förderung digitaler Kompetenzen und die Begeisterung junger Menschen für MINT-Fächer geniesst deshalb hohe Priorität. Als Standortinitiative und Digitalisierungsmotor der Schweiz hat digitalswitzerland eine wichtige Drehscheibenfunktion bei der Vernetzung der MINT-Bildungsanbieter. So konnte digitalswitzerland durch seine Vernetzungsaktivitäten und die seit Jahren erfolgreich durchgeführten Digitaltage ein “MINT-Ökosystem” von rund 50 kleinen, mittleren und grossen MINT-Förderorganisationen und Kursanbietern aufbauen. Mit vielen dieser Organisationen unterhält digitalswitzerland aktive Partnerschaften, mit anderen bestehen punktuellen Kooperationen. Daraus resultierten in der Vergangenheit bereits einige erfolgreiche Projekte wie die Next-Gen Formate der Schweizer Digitaltage 2022 oder die MINT-Plattform “nextgeneration”.

3.1 Das Anbieternetzwerk “Planet MINT”

Anfang 2022 entschied sich digitalswitzerland, diese informelle MINT-Community noch stärker zu aktivieren und einzubinden. Nach ersten konsultativen Sitzungen im Frühjahr 2022 entstand im Sommer “Planet MINT”, ein Netzwerk “von MINT-Profis für MINT-Profis”, in welchem ein regelmässiger Austausch stattfindet, der dem gegenseitigen Kennenlernen, der Koordination von Aktivitäten und der Produktion von neuen Wissensgrundlagen – wie dem vorliegenden Report – dient. In regelmässig stattfindenden Workshops teilen die jeweiligen MINT-Kursanbieter ihr Wissen mit der Community. digitalswitzerland, selbst kein Anbieter von MINT-Kursen, organisiert die Workshops, stellt Räumlichkeiten zur Verfügung und stellt Kontakte her. Im Jahr 2022 fanden nebst den bereits erwähnten konsultativen Sitzungen zwei thematische Workshops statt – eine Fokusgruppe zur Vertiefung der Thematik um gendersensible MINT-Angebote (welche substantiell zur Entstehung des vorliegenden Reports beigetragen hat) sowie ein Workshop zur idealen praktischen Ausgestaltung eines MINT-Labs. Im Jahr 2023 sind weitere sechs Workshops geplant, die allesamt von teilnehmenden Organisationen durchgeführt und von digitalswitzerland unterstützt werden. Angedachte Workshopthemen für 2023 sind: 

3.2 Teilnahme bei Planet MINT

Das Netzwerk “Planet MINT” hat den Anspruch, die ganze Schweiz abzudecken und setzt auf Niedrigschwelligkeit und maximale Inklusion. So sind alle Workshops kostenlos und die Mitgliedschaft beim Netzwerk ist auf ad hoc-Basis, ohne verpflichtende Teilnahme an den Veranstaltungen. Auch eine Mitgliedschaft bei digitalswitzerland wird nicht verlangt. Teilnehmende Organisationen bieten oftmals Kurse ausserhalb der Schulzeiten sowie in den Ferien an. Viele Kursanbieter haben auch spezifisch auf Schulklassen ausgerichtete Angebote und arbeiten seit längerer Zeit mit Schulklassen oder Schulen zusammen. Thematisch werden vor allem die Gebiete Robotik, Programmierung sowie naturwissenschaftliche Fächer wie Biologie, Chemie und Physik abgedeckt. Noch nicht vorhanden (und sehr erwünscht) sind Organisationen, die sich auf die Vermittlung von Mathematik spezialisiert haben.

Nebst MINT-Kursanbietern nahmen bei den Veranstaltungen von Planet MINT im Jahr 2022 auch grössere Organisationen wie Pro Juventute oder SATW teil. 2023 sollen zudem vermehrt auch die Mitglieder von digitalswitzerland eine aktive Rolle im Netzwerk einnehmen. Ein regelmässiger Newsletter mit Blogeinträgen, Veranstaltungshinweisen und Role-Model-Porträts sowie eine Fortsetzung des vorliegenden Reports sind ebenfalls geplant.

4 Ergebnisse unterschiedlicher Erhebungen

Um die Literaturübersicht (Spieler, Oats-Induchovà und Slany, 2020) mit Daten zum ausserschulischen MINT-Bereich in der Schweiz zu ergänzen, wurde eine Befragung von verschiedenen Organisationen aus dem Planet MINT-Netzwerk durchgeführt. Hierfür wurde ein Fragebogen mit geschlossenen und offenen Fragen versandt, um einen Überblick über die verschiedenen Angebote zu erhalten und gezielt nach Beispielen für gute Praxis zu suchen, die dazu beigetragen haben, dass Mädchen auf MINT-Aktivitäten aufmerksam wurden. Des Weiteren wurde auch nach Beispielen gefragt, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben. Zusätzlich wurden zwei Fokusgruppengespräche mit insgesamt neun Mädchen im Alter von 13-15 Jahren durchgeführt. Diese Gespräche fanden entweder während oder nach einer MINT-Initiative statt, mit dem Ziel, mehr über die Zielgruppe zu erfahren. Im Folgenden werden die Ergebnisse beider Erhebungen präsentiert.

4.1 Fragebogen und Beispiele von Planet MINT-Organisationen
Abbildung 3: Befragte Organisationen aus dem MINT-Netzwerk in verschiedenen Regionen der Schweiz.

Insgesamt 16 Organisationen nahmen an der Befragung teil: Smartfeld, SATW, Nachtaktiv/CreativeLabZ, Futurekids, IngCH, Kinderlabor, Raumschiff – Werkstatt für AstronomieStartbahn29, Coding for Girls (Partnerschaft zwischen TechSpark Academy and Nexthink), Code Camp Switzerland, mint & pepper, go-tec!, TechLabs, STEM programme for girls (EPFL), Kaleio und CoetryLab. Der Fragebogen beinhaltete neben einem allgemeinen Teil auch spezifische Fragen zu Förderprogrammen für Mädchen sowie gezielte Fragen zu den entwickelten Empfehlungen. 

Die befragten Organisationen aus dem Planet MINT-Netzwerk können folgendermassen zugeordnet werden: 11 davon sind schweizweit aktiv, vier agieren kantonal (Zürich, St. Gallen, Aargau, Schaffhausen). Die Zielgruppen der einzelnen Initiativen umfassen Kinder bis 9 Jahre (12x), von 10 bis 14 Jahren (14x) oder Jugendliche ab 15 Jahren (11x). Zwei der Initiativen nennen ausschliesslich Mädchen als Zielgruppe, neun Organisationen nennen Mädchen und Jungen und zwei nennen vorwiegend Schulklassen. Drei der Initiativen erwähnen zusätzlich, dass sie spezielle Kurse für Mädchen anbieten. Des Weiteren haben in der Vergangenheit elf der Organisationen bereits Formate angeboten, welche sich vorwiegend an Mädchen bzw. junge Frauen richteten (z.B. Meitli-Technik-Tage, Programmierkurse für Mädchen, DanceBots Workshop, Girl Scouts Digital Art oder das Mädchenmagazin KALEIO). Die Organisationen gibt es durchschnittlich seit sieben Jahren, während manche bereits seit über zehn Jahren bestehen (5x) und andere erst seit 1-2 Jahre aktiv sind (5x). Vor allem Themenbereiche aus der Mathematik (4x), dem Bereich Informatik und Medien (12x), Naturwissenschaften (10x) und Technik (11x) spielen in den Angeboten eine Rolle. Spezifische Themen sind zum Beispiel Game Design, Mediengestaltung, Programmierung (visuell /textuell), Cybersecurity, Digital Storytelling aber auch überfachliche Kompetenzen wie Fehlerkultur, vernetztes Denken, interdisziplinäre Verknüpfungen, Digitalisierung, Robotik, Nachhaltigkeit, Umwelt, Ernährung, Entwicklung von Webseiten/Apps, Basteln oder Elektronik. Weitere Themen sind in der Wortwolke von Abbildung 3 ersichtlich.

Abbildung 4: Antworten von Planet MINT-Organisationen zu einzelnen Angeboten

Des Weiteren werden Themen wie konkrete Berufsbilder oder Informationen zu Inhalten von MINT-Studiengänge vermittelt. Praktische Workshops z.B. zu Brückenbau, Roboter, Produktentwicklung, Solarzellen löten, Experimente in Chemie und Physik, ein spielerisches Lernen im Sinne des Spiralcurriculums sowie auch Astronomie und Weltraumwissenschaften ergänzen das Angebot. Diese Aktivitäten werden als Einzelkurse von wenigen Stunden bis hin zu aufbauenden Kursen oder Kurswochen z.B. in den Ferien oder als offenes “Lab-Format” (ein Kommen und Gehen) angeboten. 13 der befragten 16 Initiativen geben an, pro Jahr mehr als 500 Kinder und Jugendliche zu erreichen. Drei nennen eine Anzahl von 50-100 teilnehmenden Kindern und Jugendlichen. Dabei machen Mädchen entweder weniger als 30% (7x) bzw. 50-60% (7x) der Teilnehmenden aus. 

Die folgenden Fragen beziehen sich vor allem auf die Angebote, die speziell für Mädchen konzipiert sind. Das sind beispielsweise Formate für Jungs und Mädchen (mit spezieller Ausrichtung für Mädchen; 10x), Formate nur für Mädchen (4x), Möglichkeiten, mit weiblichen Role-Models in Verbindung zu treten (4x), Formate für Mädchen gemeinsam mit der Industrie (3x), Online-Kurse für Mädchen (2x), spezielle Challenges/Wettbewerbe für Mädchen (2x), Mentoring-Programme für Mädchen (2x) oder reguläre Formate nur für Mädchen (1x). Sechs Initiativen geben an, dass sie speziell auf Mädchen ausgerichtetes Marketing betreiben. Social-Media-Kanäle werden dabei von acht Organisationen verwendet, neun setzen Role-Models ein und fünf nennen gleichaltrige Role-Models, welche mit den Mädchen zusammenarbeiten. Sechs der befragten Organisationen rekrutieren Kinder und Jugendliche an Schulen, drei gemeinsam mit Verbänden und zwei haben Jugendzentren im Fokus. Als Social-Media-Plattform kommt vorwiegend Instagram zum Einsatz (4x), während Einzelne auch TikTok-, Facebook-, Youtube-, LinkedIn- oder Twitch-Profile betreiben. Ein Alumni-Netzwerk wird nur von zwei der Organisationen gepflegt. 

Erfolgreiche Aktivitäten für Mädchen können anhand der Antworten der Organisationen in vier Kategorien eingeteilt werden: 

  1. Angebote exklusiv für Mädchen: Dadurch, dass die Mädchen unter sich sind, entsteht ein Raum, in dem sie Gleichgesinnte treffen und ungezwungene Interaktionsmöglichkeiten nutzen können. Dies schafft einen “Safe Space”, in dem sie sich frei entfalten und ein Netzwerk bilden können.
  2. Fokus auf Kreativität (Games): Die Aktivitäten sollten eine kreative Komponente und freie Gestaltung beinhalten. Es wird auch erwähnt, dass Mädchen Aufgaben anders angehen können. Zum Beispiel fangen Jungen oft schneller an, machen aber auch mehr Fehler. Die Mädchen sind zu Anfang teils etwas unsicher, können am Ende jedoch tolle Ergebnisse vorweisen. Wichtig ist, dass keine Vorkenntnisse erforderlich sind und dass die Tätigkeit für alle zu bewältigen ist (Stichwort: einfach, aber anspruchsvoll).
  3. Role-Models: Die folgenden Stichworte werden genannt: Ein begleitendes Mentoring-Programm, das Erleben von Expertinnen sowie das Aufzeigen weiblicher und männlicher Vorbilder. Besonders positiv ist auch ein direkter Austausch mit den Lernenden, im Rahmen dessen junge Frauen erzählen, warum sie einen Beruf gewählt haben. So bekommen die Kinder eine konkrete Vorstellung von der Berufswelt. Wichtig ist auch, dass die Lehrkräfte selbst dafür sensibilisiert werden und Role-Models gezielter einsetzen.
  4. Marketing/Sponsoring: Neben der Qualität des Marketings wurde auch die harte Arbeit angemerkt, die notwendig ist, um diese Zielgruppe zu erreichen. Um Mädchen anzusprechen, ist gezielte und breit angelegte Werbung oder sogar eine langfristige Strategie notwendig. Je bekannter und erfolgreicher die Angebote sind, desto mehr Mädchen werden erreicht.

Bei Kursen an Schulen wurde auf die Bedeutung einer aktiven und für das Thema sensibilisierten Schulleitung hingewiesen. Für die Nutzung durch die Lehrkräfte sollten Materialien attraktiv, spielerisch und leicht verständlich aufbereitet werden, da Lehrkräfte nicht genügend Zeit hätten, sich in unterschiedlichen Materialien einzuarbeiten. Finden solche Aktivitäten an der Schule statt, werden auch die Mädchen einbezogen.

Weiter wurden die Organisationen nach der Quelle oder Inspiration für ihre jeweiligen Angebote gefragt.  Hierzu wurden am häufigsten Tipps von anderen Initiativen/Externen genannt (6x). Als weitere Grundlage nannten die Befragten Literatur/Ergebnisse aus der Forschung (4x), Internetrecherche (3x), “Bauchgefühl” (2x), Feedback von Teilnehmenden/Eltern (2x), eigene Ideen (2x), Marktrecherche oder Wunsch von Unternehmen (je 1x). Als erfolgreich werteten die befragten Organisationen Angebote, die vollständig ausgebucht waren oder bei denen bereits seit längerer Zeit Nachfrage besteht (7x). Positive Evaluierungen (8x) und direktes Feedback durch Teilnehmende sowie ihrer Eltern (2x) wurden ebenfalls für die Bewertung hinzugezogen.

Folgende “Lessons Learned” konnten notiert werden: 

Zusätzlich wurden die Vertreter:innen der einzelnen Organisationen befragt, welche Aktivitäten nicht erfolgreich von Mädchen angenommen wurden. Hier wurde genannt, dass es grundsätzlich schwer sei, Mädchen zu erreichen. So würden Programmierkurse viel häufiger von Jungen besucht, obwohl sie Mädchen, die schlussendlich dabei sind, stets gefallen. Des Weiteren wurden Online-Angebote, welche während des Lockdowns 2020/2021 angeboten wurden, als nicht erfolgreich vermerkt. Als genereller Grund für den geringen Mädchenanteil bei Teilnehmenden wird zusätzlich genannt, dass Eltern gar nicht auf die Idee kommen würden, ihre Töchter für MINT-Kurse anzumelden. Zurückzuführen sei dies möglicherweise auf zu geringe oder unpassende Marketingmassnahmen. Auch sei es möglich, dass Jungen sich eher von den gewählten Themen angesprochen fühlten oder die Kursinhalte zu spezifisch formuliert seien. Der Misserfolg zeigte sich vor allem in einer deutlich geringeren Anzahl an Anmeldung von Mädchen (z.B. gemischte Kurse mit bis zu 90 % Jungen), in geringem Engagement der Mädchen oder in Rückmeldungen beziehungsweise Feedback. Als “Lessons Learned” wurden hier folgende Punkte genannt: Lehrpersonen weiterbilden, den Kurs direkt im Unterricht durchführen, Kurse an einer Hochschule anbieten oder die Inhalte anders kombinieren. Eine weitere Aussage verwies auf den Einfluss konkurrierender Angebote auf den Erfolg: “Wenn ein grosses Angebot zur Auswahl steht (z.B. Ferienplausch), erreichen wir viel weniger Mädchen. Sie scheinen dann eher nach stereotypen Mustern zu wählen. Wird das Angebot allein beworben, ohne ‚typisch weibliche‘ Konkurrenzangebote, steigt der Anteil der Mädchen.”

Auf die Frage, welche Empfehlungen für MINT-Initiativen in erster Linie berücksichtigt werden sollten, wurden die folgenden Punkte genannt: Praktische Beispiele (15x), Gender- und Diversitätsaspekte (12x), Best-/Good Practice Beispiele (11x), eine Checkliste für die Rekrutierung von Mädchen (10x), eine Checkliste für das Ausrichten von Formaten für Mädchen (9x), Überblick über aktuelle Literatur/Forschung (9x) und generelle Empfehlungen (7x).

Abschliessend konnten die folgenden Kommentare zu den bestehenden Empfehlungen gesammelt werden:

4.2 Fokusgruppengespräche mit Mädchen

Im Zuge dieses Reports wurden zwei Fokusgruppengespräche durchgeführt. Das erste Gespräch wurde am 14. September 2022 in den Räumlichkeiten von “Startbahn29”8 in Dübendorf durchgeführt. Das Experimentier- und Forscherlabor befindet sich an einem aussergewöhnlichen und spannenden Lernort im Innovationspark Zürich, mit Schnittstelle zur Forschung und Zugang zu Hightech-Infrastruktur, etwa aus dem Robotikbereich der ETH Zürich. Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene zwischen 7 und 25 Jahren lernen die faszinierende Welt der Naturwissenschaften kennen. Die Mädchen sind Teil des Mentoring-Programms “Swiss TecLadies” – eine Initiative von SATW. Das Mentoring-Programm richtet sich an Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren, die ihre technischen Talente fördern und sich über technische Berufe informieren wollen. Während neun Monaten werden sie dabei von einer erfahrenen Mentorin aus der Technikwelt begleitet und erhalten umfassende Einblicke in die Berufswelt. In mehreren Workshops erleben sie die Vielfalt der technischen Berufe hautnah und stärken ihre Persönlichkeit. Das Programm startete Anfang September 2022 mit 14 Mädchen. Im Zuge dieses ersten Workshops hatten die Mädchen die Aufgabe, innerhalb von drei Stunden mit einem kleinen Elektromotor ein E-Fahrzeug zu bauen. Dafür standen ihnen unterschiedliche Materialien des Makerspaces der “Startbahn29” zum Experimentieren und Tüfteln zur Verfügung. In der Pause wurde ein Fokusgruppengespräch mit vier der teilnehmenden Mädchen (Alter: 13-15 Jahre, Mittelwert: 14.25) durchgeführt. Die Mädchen stammen aus den Kantonen Zürich, St. Gallen und Luzern. 

Das zweite Gespräch wurde am 26. Oktober 2022 am Standort von “go tec!”9 in Neuhausen am Rheinfall durchgeführt. Die Initiative unterstützt unter anderem Lehrer:innen bei der Umsetzung der entsprechenden Lernziele in unterschiedlichen MINT-Bereichen und bietet dazu eine Reihe an Kursen an. Diese finden jeweils im Schulzimmer und auch im eigenen “go tec!”-Labor statt. Der zweistündige Kurs selbst wurde gemeinsam mit dem “Coding Club for Girls” der EPFL-SPS für Mädchen im Alter von 11 bis 16 Jahren angeboten. Im Kurs sollten die Mädchen mit Hilfe der Programmiersprache Python das Spiel “Snake” programmieren. Da aber mit dem Programm etwas nicht funktionierte, programmierten die Kinder mit Scratch malende Schildkröten. Am Ende des Kurses nahmen fünf Mädchen (Alter: 13-15, Mittelwert: 13.6) an diesem Fokusgruppengespräch teil. Die Mädchen stammen aus den Kantonen Schaffhausen, Bern und Zürich.

Ziel dieser Gespräche war es, mehr über die Zielgruppe, ihre Vorlieben und Beweggründe herauszufinden. Dafür wurde das schriftliche Einverständnis der Eltern vorab eingeholt und die Kinder über die Anonymisierung ihrer Daten und Rechte informiert. Die Gespräche wurden mit Hilfe eines Leitfadens (Helfferich, 2011) strukturiert, basierend auf drei Leitfragen mit zusätzlichen Teilfragen. Die erste Leitfrage befasst sich mit der Freizeit, den Lieblingsfächern und Hobbys der Mädchen. Hier wurden zum einen kreative Hobbies angegeben wie Zeichnen, Lesen, Schreiben (Bücher oder Songs) und zum anderen sportliche Freizeitgestaltung wie Karate, Geräteturnen, Eishockey oder Tennis. Eines der Mädchen nannte als Hobby auch Lernen, z. B. Sprache oder Mathematik, eines der Mädchen Familienzeit und ein weiteres sagte “In meiner Freizeit fahre ich gerne mit meinem Motorrad, repariere es auch gerne”. In der zweiten Gruppe überwiegten verschiedene technische Anwendungen wie Netflix, YouTube, Videospiele wie Onlinespiele (z.B. Fortnite, Minecraft), oder auch Apps wie “Pop Star” oder “Gacha Life”: “Also ich spiele nicht allzu oft, weil ich nicht so viel Zeit habe und auch wegen den Eltern, aber wenn ich mal spiele, dann spiele ich so richtig lang. Vor allem so Horrorspiele oder Actionspiele.” Ein Mädchen nannte auch Programmieren: “Also, wenn ich eine Idee habe, dann programmiere ich auch in Scratch … also so Spiele”. Auch in dieser Gruppe wurde das Hobby “Zeichnen” öfters genannt, bis hin zu Animationen erstellen: “ (…) ich animiere auch ein bisschen (…) so animierte Videos und dann schneide ich sie zusammen (…) Karikaturen und so (…) wo so kleine Strichmännchen tanzen, und lustige Sachen machen”. Andere nannten auch Schreiben von Gedichten oder Geschichten und das Lösen von Rätseln wie Sudoku. Die erste Gruppe nannte erst auf Nachfrage einige Apps bzw. Spiele, dabei aber hauptsächlich analoge Spiele wie Pokern oder die Siedler von Catan. Apps bezogen sich vor allem auf soziale Medien wie WhatsApp, Pinterest (für Ideen z.B. für Strickvorlagen), TikTok, Snapchat oder Instagram. “Ich spiele keine Spiele, aber ich bin dann häufig auf diesen Apps und scrolle.” Zwei nannten Nintendo Wii und Nintendo Switch als Konsolen, die sie zum Spielen benutzten. Eines der Mädchen wirft ein, dass sie aber keine Gamerin sei: “Ich spiele fast nie, aber manchmal in den Ferien, einfach um andere Gedanken zu bekommen (…) Also ich bin nun nicht so eine Gamerin, aber manchmal so eine Stunde (…).

Zu ihren Lieblingsfächern zählen Mathematik (3x), Naturwissenschaftliche Fächer wie Biologie, Chemie, Physik (2x), Sport (2x), Sprachen (3x) oder Zeichnen (2x). 

Die zweite Leitfrage beinhaltete vor allem Teilfragen zu MINT-Vorwissen/Kursen und Wünsche/Berufsvorstellungen. Eine weitere Frage war, was die Mädchen noch gerne lernen, gestalten oder können möchten (hinsichtlich zukünftiger Aktivitäten).

Zum Informatikunterricht in der Schule hatten die Mädchen gespaltene Meinungen: “Ja wir hatten MI [Medien und Informatik] mit diesem Buch ‘connected’. Naja, letztes Jahr war das etwas langweilig, weil wir nur Theorie hatten, aber jetzt haben wir unsere Sport- und Musiklehrerin in MI und jetzt ist es etwas mehr spannender.” Ein anderes Mädchen erzählt vom Programmieren mit Scratch “Es ist recht cool. Wir haben im letzten Jahr ein bisschen in Scratch programmiert und uns dieses Jahr Verschlüsselungen angesehen.” oder mit Phyton. In der zweiten Gruppe machten die Mädchen vor allem ausserschulisch erste Erfahrungen mit Informatik-Aktivitäten. Die ersten Kurse besuchten hier alle mit 9 bzw. 10 Jahren, bei dem sie sich mit dem Programmieren eines Tanz-Roboters oder dem Gestalten von Webseiten mit HTML auseinandersetzten. Dazu angemeldet wurden sie von den Eltern. Eines der Mädchen erwähnte, dass ihr Vater Informatiker ist “(…) ich konnte von ihm sehr viel anderes noch lernen (…) als kleines Kind war ich immer fasziniert vom Job meines Vaters und als meine Eltern mir davon [vom Kurs] erzählt haben, wollte ich sofort hin.” Eines der Mädchen aus der zweiten Gruppe erzählt von ersten Erfahrungen in der Schule mit Oxocard: “Es hatte mehrere Knöpfe und so. Darauf konnte man mehrere Sachen programmieren, also auch Spiele und so. Das dauerte nur sehr lange. Dann bin ich einmal Elektronikerin schnuppern gegangen und da haben wir so Kreise gemacht und es gab eine Reihe von Lämpchen. Und dann konnten wir programmieren, dass wenn man es dreht, dass es etwas anzeigt (…) und zu Hause hatten wir auch so einen Roboter, den man programmieren kann” (Auf Nachfrage: Lego Mindstorms Roboter). 

Zur Frage, was sie noch gerne lernen möchten, nannte eines der Mädchen aus der ersten Gruppe, dass sie gerne auch mit anderen Motoren arbeiten möchte. Andere Themen, welche in dieser Gruppe genannt wurden, waren die folgenden: Lernen über das Universum, Astrophysik (“weil sowas in die Richtung möchte ich vielleicht auch mal studieren”), Medizintechnik, Röntgen oder Biologie. Die zweite Gruppe nannte keine expliziten MINT-Themen. Hier wurden die Nennungen “richtig gut zeichnen” (z.B. Menschen realistisch zeichnen und auch animieren), besser E-Bass spielen und eine neue Sprache wie Französisch lernen, genannt. 

Die Mädchen in der zweiten Gruppe, ärgerten sich etwas, dass sie nicht den Kurs machen konnten, für den sie sich angemeldet hatten (daher Scratch statt Python) – drei der fünf Mädchen hatten den Ersatzkurs bereits absolviert. Eines der Mädchen äusserte sich dazu aber trotzdem positiv “(…) aber es war natürlich wieder gut, weil so konnte ich mein Wissen wieder hervornehmen und mich wieder erinnern”. Sie bräuchte viel Abwechslung und möge es nicht, wenn es immer wieder das Gleiche sei. Ein Mädchen meinte, dass es vor allem am Schluss etwas langweilig war: “Wir konnten das machen, was wir wollten (…) es wurde ein bisschen langweilig, weil ja am Schluss keine Ahnung (…) ja es hat ein bisschen der Auftrag gefehlt”. Sie würde sich Kurse wünschen, wo man sich länger und intensiver mit einem Thema auseinandersetzen kann. Sie bevorzugt ein freies Experimentieren, benötigt aber auch Vorgaben: “Ich finde auch dass man am Anfang eine kleine Erklärung bekommen sollte und nachher, dass es viel Freiraum hat aber nicht ganz so also schon Aufgaben aber nicht ganz so streng z.B. jetzt musst du ein Dreieck machen, sondern so: Was musst du machen, damit du von A nach Z kommst oder so.”

Als dritte Leitfrage wurden 12 Fotos präsentiert, welche unterschiedliche Situationen aus Kursen darstellen, siehe Abbildung 4. Diese Bilder entstanden im Zuge der “Maker Days for Kids”10 ein Pop-Up Makerspace an der TU Graz (Österreich) oder aus dem aktuellen Projekt der Autorin “Making im Unterricht”11.

Abbildung 5: Unterschiedliche Kurs-Situationen. Quelle der Fotos: CC-BY-NC-ND 4.0 Lehr- und Lerntechnologien, TU Graz, CC-BY-SA 4.0 Making im Unterricht

Die Frage an die Kinder war folgendermassen formuliert: “Wo würdet ihr euch gerne dazusetzen? Was würdet ihr gerne ausprobieren?” Dafür sollten sie zwei Fotos auswählen, ihre Auswahl auf einen Zettel schreiben und diese begründen.

Wenn die Mädchen Fragen zu den einzelnen Situationen hatten, konnten sie nachfragen. Mehr Informationen wollten sie zum Foto 1 (CS Unplugged, Sortieralgorithmus darstellen), 5 (Thymio Roboter), 10/11 (Löten, Stromkreise) und 12 (Kugelbahn bauen). Folgende Fotos wurden dreimal ausgewählt: 2, 7, 10 und 11. Nummer 5 wählten die Mädchen zweimal und die Fotos 1, 3, 4 und 12 jeweils ein Mal. Die Fotos 6, 8 und 9 wurden nicht ausgewählt. Zum Bild mit der Stickmaschine schrieben die Mädchen, dass sie auch zu Hause gerne nähen: “Ich nähe auch eigentlich sehr gerne, ich habe keine Nähmaschine zu Hause. Ich finde das einfach noch spannend (…)”. Zu Foto Nummer 10 wurde folgendes genannt: “(…) manchmal mache ich nicht so gerne Sachen nur am Computer, muss ich ehrlich zugeben. Programmieren und so ist schon faszinierend, aber manchmal habe auch schon gerne etwas mit Handarbeit zu tun, weil es kann spannend sein, z.B. Elektrizität (…) ähm zu programmieren also das zusammen ist dann spannend.” Eines der anderen Mädchen stimmte dieser Aussage zu: “Weil ich auch gerne mit den Händen arbeite und nicht immer nur so am Computer oder ähm Theorie etwas”. Bei Bild Nummer 5 wurde genannt, dass etwas programmiert wird und dann sofort das Ergebnis sichtbar sei. Ein anderes Mädchen ergänzte: “(…) ich kann zwar nicht besonders gut programmieren, weil wir das in der Schule nicht gelernt haben, aber ich finde es ganz spannend.”  

In der zweiten Gruppe wurden als Gründe hauptsächlich genannt, dass es “cool” oder “interessant” aussieht, was gemacht wird. Zum Foto 2 und 11 gab es die folgende Aussage: “Es sieht aus, als ob es viel Material hat, also viel Freiheit beim Gestalten”. Auch das Handwerkliche war wieder ein Thema: “Weil ich das Handwerkliche daran mag, also dass man einfach was in der Hand haben kann.”

Aus diesen Antworten wurde eine repräsentative Darstellung einer “Persona” entwickelt. Eine Persona ist eine Beschreibung von Benutzer:innenmerkmalen und zeigt die spezifischen Ziele von Personen auf (Cooper, 2003). Laut Cooper sollte eine Persona in Text und/oder Bild dargestellt werden. Diese werden normalerweise erstellt, um Designer:innen dabei zu helfen, Benutzer:innenpräferenzen und Verhaltensmuster zu Vorlieben zu verstehen, zu beschreiben und zu definieren. In unserem Fall zeigt die Persona Amelie ein durchschnittliches Mädchen, das eine MINT-Aktivität besucht (siehe Abbildung 5).

Abbildung 6: Persona für ein durchschnittliches Mädchen, das eine MINT-Aktivität besucht.

Eine weitere Frage, die sich stellt, ist, wie die Persona eines Mädchens aussieht, das nicht an ausserschulischen MINT-Aktivitäten teilnimmt. Falls diese Studie fortgeführt wird, wird empfohlen, die Fotos ähnlicher zu gestalten, d.h. entweder Fotos mit oder ohne Kinder statt nur Geräte abzubilden. Des Weiteren wären längere Fokusgruppengespräche einzuplanen (max. 45 Minuten) sowie vor allem der letzten Frage mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

4.3 Diskussionsrunden Planet MINT-Netzwerk

Im Oktober und November 2022 wurden zwei Workshops mit unterschiedlichen Mitgliedern des Planet MINT-Netzwerkes durchgeführt. Hierzu wurden unterschiedliche “kritische Statements” auf Basis der Literaturrecherche aus dem zweiten Kapitel, den ausgefüllten Fragebögen und ersten Auswertungen aus den Fokusgruppen diskutiert. Folgende Statements und offene Fragen wurden dazu formuliert:

Statement 1: In den Schulen fehlt es oft an direkter Ermutigung. Die meisten Mädchen, die MINT-Kurse belegen, haben bereits eine Form der Ermutigung erfahren, z.B. durch ihre Eltern. Zu ihren Lieblingsfächern gehören Mathematik oder Naturwissenschaften, und sie wollen mehr lernen. Das wirft die Frage auf: Erreichen wir nur diejenigen, die ohnehin schon interessiert sind? Wollen wir eine andere Zielgruppe erreichen? Was können wir beeinflussen? Wo können wir sonst noch ansetzen? Und: Welche Rolle spielt der Hintergrund der Schüler:innen (Haushaltseinkommen, kultureller Hintergrund) oder die Ansichten und Vorlieben der Familienmitglieder?

Statement 2: Siehe die Ergebnisse von Antti-Jussi und Karkkainen (2019) zur Nachhaltigkeit von Interventionen. Was tragen unsere Interventionen tatsächlich langfristig bei? Wie zukunftsorientiert/anwendbar ist das Wissen, das Kinder und Jugendliche in unseren Kursen erwerben? Wie können wir Mädchen entlang der Bildungskette stärken? Wo verlieren wir sie?

Statement 3: Stereotype und Vorurteile beeinflussen alle Menschen und führen zu (falschen) Darstellungen. Wenn sie die Wahl dazu haben, folgen Mädchen und Jungen dieser Repräsentation, welche eher dem eigenen sozialen Geschlecht entspricht, anstatt auf der Grundlage der Interessen zu wählen. Als Frau in MINT (vor allem in der Informatik) gehört es immer noch zum Alltag, geschlechtsspezifische Situationen zu erleben, z. B. bei Einstellungs- und Bewertungsverfahren oder restriktiven Vorschriften und Normen. Junge Frauen, die sich für MINT-Karrieren entscheiden, sind oft noch “Pionierinnen” und “Quotenfrauen”, die sich mit Vorurteilen auseinandersetzen müssen. Es reicht vielleicht nicht aus, zu zeigen, dass es vereinzelt Frauen in MINT-Fächern gibt. Offene Fragen: Sind Stereotypen noch ein Thema? Was können wir dagegen tun?

Statement 4: Speziell für Mädchen konzipierte Initiativen können junge Frauen bei ihrer Entscheidung für einen MINT-Beruf unterstützen. Es ist wichtig, dass diese Initiativen auf die richtige Weise und aus nachvollziehbaren Gründen gefördert werden, um eine weitere Verstärkung von Stereotypen zu vermeiden. Im Hinblick auf speziell für Mädchen/Frauen konzipierte Produkte gibt es viele Beispiele, in denen Unternehmen Frauen als eine besondere Unterklasse der Menschheit mit völlig einzigartigen Bedürfnissen und einer unerschütterlichen Vorliebe für die Farbe Rosa vermarktet haben. Dabei sind viele Produkte eigentlich für alle, etwa Lebensmittel, Werkzeuge oder Laptops. Andererseits ist es notwendig, die Bedürfnisse von Frauen zu berücksichtigen, beispielsweise bei Spracherkennungssystemen oder bei (Lern)-Spielen. Forscher:innen argumentieren, dass ein Grossteil der existierenden Entwicklungsumgebungen von Männern entworfen werden und Frauen daher eventuell bei der Arbeit mit diesen Technologien eine männliche Perspektive einnehmen müssen. Wo oder warum brauchen wir mehr Gender-Sensibilität, mehr Gender-Gerechtigkeit, Gender-Achtsamkeit oder eine besondere Stärkung von Mädchen? Brauchen Mädchen besondere Unterstützung oder werden durch eine Fokussierung nur Stereotypen weiter verfestigt? 

In den Diskussionen kamen vor allem viele neue Fragen auf, die in diesem Report nicht weiter beschrieben werden.

5 Empfehlungen für gendersensible MINT-Angebote

Die unterschiedlichen Erhebungen in diesem White Paper zeigen auf: Neben der Stärkung des Selbstvertrauens und der Selbstkompetenz durch möglichst frühe MINT-Aktivitäten sollten Aktivitäten vor allem eine Vielseitigkeit widerspiegeln und nicht primär nur die Technik dahinter zeigen. Wichtig ist es, MINT-Aktivitäten mit folgenden Kompetenzen zu verknüpfen: Kreativität, Innovation, Problemlösekompetenz und das Arbeiten in Teams. Des Weiteren sollten Sinn und Zweck von Technologien und ihre Allgegenwart betont werden.Auf Grundlage des Literaturreviews Spieler, Oates-Induchovà und Slany (2020), weiteren Projekten der Autorin (Making im Unterricht/DIZH: 2021-2023, Code’n’Stitch: 2018-2020, RemoteMentor: 2018-2019), daraus entstandene Publikationen (Spieler, 2022; Spieler, 2021; Spieler, Grandl und Krnjic, 2020; Spieler et al., 2020a; Spieler et al., 2020b; Spieler et al., 2020c; Spieler, Krijic und Slany, 2019; Spieler und Slany, 2019) und den unterschiedlichen Ergebnisse aus diesem Report können die folgenden Empfehlungen formuliert werden. Diese Liste erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist ein erster Ausgangspunkt für die Sammlung weiterer Beispiele.

6 Fazit und Ausblick

In diesem Bericht wurde die im Jahr 2020 veröffentlichte Literaturübersicht aktualisiert und mit Daten von ausserschulischen Organisationen aus Planet-MINT und Fokusgruppendiskussionen mit Mädchen ergänzt. Während die einzelnen Organisationen auf Bewährtes zurückgreifen wie Mentoring-Programme, spezielle Aktivitäten für Mädchen, Vielseitigkeit und Kreativitätsförderung, ist ein Erfolg nur langsam sichtbar bzw. mit viel Arbeit verbunden. Die Fokusgruppengespräche zeigten, dass die Mädchen bereits sehr MINT-erfahren sind. Das spiegelt sich unter anderem in ihren Lieblingsfächern und teilweise auch in ihren Freizeitaktivitäten wider. Bestärkt wurden sie zusätzlich von ihren Eltern. 

Auf Basis dieser zusätzlichen Erkenntnisse konnten die Empfehlungen überarbeitet und um praktische Beispiele erweitert werden. In zukünftigen Studien sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden:

7 Biographie der Autorin

Prof. Dr. Bernadette Spieler hat 2021 an der Pädagogischen Hochschule Zürich die Professorenstelle für Informatische Bildung am Zentrum Medienbildung und Informatik angetreten. Zusätzlich forscht sie am Zentrum für Bildung und Digitaler Wandel im Schwerpunkt “Computing Skills in Education”. Zuvor war sie als Vertretungsprofessorin Informatik Didaktik am Institut für Mathematik und Angewandte Informatik der Universität Hildesheim in Deutschland tätig. Spieler promovierte 2018 am Institut für Softwareentwicklung an der Technischen Universität Graz in Österreich. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen die Informatische Grundbildung, KI-Didaktik, Maker-Education, Programmierkonzepte, Game-Design und Softwareentwicklung, mit einem Fokus auf Gender. Aktuell ist sie in der Definition der Fach-Rahmenlehrpläne Informatik Sek 2 (EDK) beteiligt sowie in den folgenden Ausschüssen aktiv tätig: Education, Professionals  & Diversity von digitalswitzerland, Biber der Informatik Schweiz, Gründerin des Coetry-Lab Zürich, sowie Vorstandsmitglied des Catrobat Vereins zur Entwicklung von Apps für Kinder und Jugendliche. Webseite: https://bernadette-spieler.com und https://phzh.ch/personen/bernadette.spieler.

1 Spieler, B., Oates-Induchovà, L. und Slany, W. (2020). Female Teenagers in Computer Science Education: Understanding Stereotypes, Negative Impacts, and Positive Motivation. Journal of Women and Minorities in Science and Engineering. 26(5). S. 473-510. https://doi.org/10.1615/JWomenMinorScienEng.2020028567

2 https://www.tecladies.ch

3 https://www.epfl.ch/education/education-and-science-outreach/de/wissenschaftsfoerderung/coding-club-for-girls/

4 https://it-feuer.ch/

5 https://ingch.ch/

6 https://educa.ch

7 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20223878

8  https://www.startbahn29.ch/

9  https://go-tec.ch/

10 https://learninglab.tugraz.at/informatischegrundbildung/makerdays/

11  https://explore-making.ch

8 Literatur

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Alvarado, C., Cao, Y. und Minnes, M. (2017). Gender Differences in Students’ Behaviors in CS Classes throughout the CS Major. In: Proceedings 2017 ACM SIGCSE Technical Symposium on Computer Science Education, S. 27-32.

Antti-Jussi L. und Karkkainen T. (2019). Identifying Pathways to Computer Science: The Long-Term Impact of Short-Term Game Programming Outreach Interventions. In: ACM Transition Computer Education, 19(3), 30 pages. https://doi.org/10.1145/3283070

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Zusammenfassung

Seit 2010 lässt die ICT-Berufsbildung Schweiz den Fachkräftebedarf in der mittleren bis langen Frist abschätzen. Diese Prognosen sind für Laien teilweise schwer glaubhaft, da von einem Bruttobedarf im Bereich von 120’000 Personen ausgegangen wird und unter Berücksichtigung der Neuabsolventen und Neuabsolventinnen sowie Zuwanderung in den nächsten neun Jahren noch ein Nettobedarf im Bereich von 30’000 bis 40’000 ICT-Fachkräften bleibt.

Wertschöpfungsverlust als direkte Opportunitätskosten des ICT-Fachkräftemangels

Viele der Anpassungsmassnahmen der Schweizer Unternehmen (höhere Löhne, mehr Weiterbildung für
die Mitarbeitenden, Reduktion der Anforderungen an Bewerbende etc.) haben für die Firmen zwar eine
Kostenfolge, sind volkswirtschaftlich aber wenig problematisch und gehören zum normalen Lauf der Wirtschaft. Wenn jedoch Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden oder Aufträge abgelehnt werden müssen, dann handelt es sich um eine Wertschöpfung, welche eigentlich in diesem Land hätte erbracht werden können. Und da die ICT-Branche im Vergleich zu anderen Sektoren sehr hohe Löhne zahlt, Arbeitsplätze auf allen Bildungsstufen anbietet und wahrscheinlich zu den zukunftssichersten Berufen zählt, wiegt der Wertschöpfungsverlust schwer.

Basierend auf der neuesten Fachkräftestudie der ICT-Berufsbildung Schweiz ist bis zum Jahr 2030 von
einem kumulierten Wertschöpfungsverlust von bis zu 31.1 Mrd. CHF auszugehen. Dies entspricht der
Wertschöpfung, welche heute die ganze Versicherungsbranche in einem Jahr erwirtschaftet.

Wachstum der Beschäftigung verschleiert relative Schwäche

Trotzdem wird der ICT-Fachkräftemangel häufig ad acta gelegt. Dies unter anderem deshalb, weil er als
Luxusproblem angesehen wird und zum anderen, weil vermutet wird, dass diese Zahlen wahrscheinlich
zu hoch gegriffen sind.

Nun konnte in den letzten Jahren mittels Backtesting gezeigt werden, dass diese Prognose in der Vergangenheit stets zu konservativ ausfiel. Das Gefühl des «Luxusproblems» hängt auch damit zusammen, dass das Berufsfeld ICT in den letzten Jahren trotzdem stark wuchs: Übten 2013 noch 4.8 Prozent der Beschäftigten einen ICT-Beruf aus, so stieg dieser Anteil bis 2021 auf 5.5 Prozent.
Dabei verbirgt dieses Beschäftigungswachstum den Sachverhalt, dass die Schweiz in Europa an Boden
verliert. Die Schweizer Wirtschaft wird zwar digitaler, aber andere Länder überholen die Schweiz: Wies
die Schweiz 2013 noch den vierthöchsten Anteil an ICT-Beschäftigten im Rahmen der Gesamtbeschäftigung auf, so ist es 2021 nur noch Platz 9. So waren beispielsweise Irland und die Niederlande 2013 noch fast gleichauf mit der Schweiz (4.7 Prozent ICT-Berufe an allen Berufen) und sind nun mit 6.3 bzw. 6.7 Prozent neu auf Rang 5 bzw. 3.

Fachkräftemangel als Hindernis zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit

Die Schweiz ist in den internationalen Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit immer in der Spitzengruppe.
Dies gilt auch für Rankings, welche sich auf die digitale Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren, wie das IMD World Digital Competitiveness Ranking. Hier ist die Schweiz vor zwei Jahren um einen Platz auf Rang 6
abgerutscht. Bei der Detailanalyse schneidet die Schweiz beim Pfeiler «Knowledge» zwar weltweit am
besten ab, dieser Spitzenrang ist aber primär der hochqualifizierten Zuwanderung von ICT-Fachkräften zu verdanken (die es zu erhalten gilt). In den Umfragen zu den «Digital and Technological skills» rangiert
noch Platz 11 hinter Schweden (2) und Dänemark (3), was darauf zurückzuführen ist, dass die befragten
Führungskräfte die Verfügbarkeit von ICT-Spezialisten als deutlich schwächer einstufen. Dies, kombiniert
mit dem im Vergleich zu anderen Ländern weniger rasch wachsenden Berufsfeld, schwächt die digitale
Wettbewerbsfähigkeit über die Zeit deutlich. Auch wenn sich diese Entwicklung in den Rankings insgesamt nicht so rasch abbildet, da die Schweiz mit ihrem Wohlstand in vielen anderen Kategorien solche Rückschläge aufzufangen vermag.

Fachkräfteparadoxon der Wirtschaft

Angesichts der vorliegenden Zahlen stellt sich die Frage, weshalb die Schweizer Unternehmen nicht aktiver gegen den Fachkräftemangel vorgehen. Zum einen gibt es viele Firmen in der Schweiz, welche sich beispielsweise in der beruflichen Grundbildung engagieren, Löhne erhöhen, Weiterbildungsangebote ausbauen etc. Zum anderen macht auch die «Tragik der Allmende» zu schaffen. Damit wird in der Ökonomie das Problem beschrieben, dass es zwar ein soziales Optimum gibt, wovon alle profitieren, dass aber die Abweichung von der benötigten gemeinsamen Strategie profitabler ist. Konkret bedeutet dies: Es wird interessanter, sich aus der Grundbildung (etwas) zurückzuziehen, je mehr sich andere Unternehmen engagieren. Politisch könnte hier ein Berufsbildungsfonds helfen, welcher heute jedoch undenkbar ist, da ICT-Fachkräfte als Querschnittsfunktion in allen Branchen benötigt werden und es rechtlich nicht möglich ist, alle Unternehmen zu verpflichten.

Einleitung

1.1 Hintergrund und Zielsetzung

Die ICT-Berufsbildung Schweiz lässt seit 2010 den Bildungsbedarf in der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) abschätzen1. Der Verband nutzt diese Prognose als strategisches Instrument zur Bestimmung, ob die Ausbildungsanstrengungen des Verbands und der Wirtschaft den künftigen Bedarf zu decken vermögen. Als Konsequenz hat sich der Verband immer ambitioniertere quantitative Ziele gesetzt und konnte zusammen mit der Wirtschaft die Zahl der Lehrstellen stark steigern. Trotzdem veranschaulicht diese Bedarfsprognose auch, dass jeweils ein Bedarf von ungefähr 120’000 Personen vorhanden ist, welche zurzeit keine ICT-Tätigkeit ausüben und in einem Zeitraum bis neun Jahren in das Berufsfeld eintreten. Berücksichtigt man die Zahl der zu erwartenden Neuabsolventen, Neuabsolventinnen sowie Zuwanderer und Zuwanderinnen, so resultiert hieraus ein zusätzlicher Ausbildungsbedarf (Nettobedarf) in der Grössenordnung von 30’000 bis 40’000 ICT-Fachkräften. Fehlende Fachkräfte sind in erster Linie ein Problem für die Arbeitgebenden, während die Arbeitnehmenden von noch besseren Löhnen und mehr Aus- und Weiterbildungsangeboten sowie guten Karrierechancen profitieren. Aus Sicht der ICT-Dachorganisation digitalswitzerland stellen sich aber gesamtwirtschaftliche Fragen:

1.2 Methodik und Daten

Die Fachkräftestudie 2022 der ICT-Berufsbildung Schweiz erscheint kurz nach der Publikation dieser Studie. Die ICT-Berufsbildung Schweiz hat erlaubt, dass die Berechnungsgrundlage auch für diese Studie genutzt werden darf. Entsprechend können für die Berechnung des potenziellen Wertschöpfungsverlusts die Verteilung der Fachkräfte auf einzelne Branchen wie auch die Information zum Fachkräftebedarf einfliessen.

Bei der Analyse der Wettbewerbsfähigkeit liegt der Fokus auf den Zahlen von Eurostat zur Beschäftigung
von ICT-Beschäftigten in Europa wie auch auf dem IMD-Ranking «World Digital Competitiveness». Zwar
gibt es eine Vielzahl von anderen Rankings, aber dieses ist sehr anerkannt, fokussiert auf die Digitalisierung und berücksichtigt die Schweiz als Teil der Analyse.

1.3 Die Informations-und Kommunikationstechnologie (ICT)

Die ICT ist sowohl eine Tätigkeit als auch eine Branche. In beiden Funktionen beeinflusst sie die schweizerische Volkswirtschaft im Rahmen ihrer Querschnittsfunktion. Es ist wichtig, diese zwei Aspekte auseinanderzuhalten:

Branche. Das Bundesamt für Statistik zählt Unternehmen zum ICT-Sektor, welche die Digitalisierung der Wirtschaft vorantreiben. 2 Darunter fallen IT-Dienstleistungsunternehmen zur ICT, zum Beispiel Produzenten von Software oder Anbieter von hardwarebasierten Leistungen (etwa Cloud-Services, Hosting, Rechenzentren, Webportale) bzw. entsprechende Betreuer. Überdies zählen auch Herstellervon Hardware (inklusive deren Reparatur), der Grosshandel und das Verlagswesen im Bereich ICT sowie Firmen im Telekommunikationsbereich dazu.

Fachkräfte / Spezialisten / Berufsfeld / Tätigkeit. In vielen Wirtschaftsbereichen
entspricht die Branche auch der mit Abstand wichtigsten Arbeitgeberin von
gleichnamigen Fachspezialistinnen und -spezialisten, nicht aber im Fall der ICT. Die
ICT-Fachkräfte arbeiten in fast allen Branchen, so in ausgeprägtem Masse im Finanzsektor, in freiberuflichen Tätigkeiten, in der Verwaltung oder in der Industrie. Dabei wird das ganze Spektrum der ICT-Ausbildungen von Berufslehre bis Hochschulstudium nachgefragt. Die Definition des Berufsfelds ICT basiert auf dem weltweit verwendeten UNO Standard der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). 3

Folgen des ICT-Fachkräftemangels für die ganze Schweiz

2.1 Wertschöpfungsverlust durch den ICT-Fachkräftemangel

Die essenzielle Stärke unseres Wirtschaftssystems ist der Umgang mit knappen Ressourcen. Während planerische oder technokratischere Systeme auf dem Papier für einzelne Problemstellungen effizienter
scheinen, so ist es die Fähigkeit des kapitalistischen Systems, dass bei Knappheit die Ressourcen dorthin alloziert werden, wo sie relativ effizient eingesetzt werden. So gesehen stellt auch eine Knappheit an Fachkräften a priori kein unlösbares Problem für ein marktwirtschaftliches System dar. Gewisse Anpassungsprozesse wie höhere Löhne sowie verstärkte Ausgaben für die Aus- und Weiterbildung von Angestellten sind richtig und wichtig.

Normalerweise reichen diese Signale aus, um mittelfristig wieder ein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt herzustellen. Im Fall der ICT erschweren drei Faktoren dieses Einpendeln: Erstens wächst das Berufsfeld ICT seit Jahrzehnten dreimal schneller als die Gesamtbeschäftigung in der Schweiz (vgl. IWSB (2022)). Zweitens dauern die Ausbildungszyklen mehrere Jahre. Drittens stagniert der Pool an MINT4-interessierten Personen seit Jahren. Kombiniert bedeutet dies, dass die Anpassungsprozesse auf der Arbeitsangebotsseite schlicht länger dauern als auf der Arbeitsnachfrageseite. Ferner sind generell im Themenfeld MINT Fachkräfte rar.

Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind zum Beispiel Lohnanpassungen keine Wertschöpfungsverluste, es verschiebt sich lediglich die Marktmacht zugunsten der Arbeitnehmenden. Problematisch sind Verlagerungen von Arbeiten ins Ausland (Outsourcing, Nearshoring) oder der Verzicht auf Aufträge. Doch auch diese Verluste sind nur gewichtig, wenn die Aufträge eine – im Vergleich zur restlichen Wirtschaft – überdurchschnittliche Wertschöpfung erbringen.

Die Bestimmung dieser Wertschöpfung ist schwierig, da die ICT-Beschäftigten in vielen Branchen tätig
sind, nur rund ein Drittel arbeitet in der ICT-Kernbrache (vgl. IWSB (2022)). Ein guter Indikator sind die
gezahlten Löhne im Berufsfeld. Wie Abb. 1 verdeutlicht, ist der ICT-Bruttomedianlohn (8’900 CHF) im Vergleich zum Durchschnitt in der Schweiz (6’500 CHF) sehr hoch. Aber auch im Vergleich zum Medianlohn der MINT-Berufe (7’700 CHF) werden hohe Löhne bezahlt, was impliziert, dass die erbrachte Wertschöpfung in der Unternehmung ebenfalls hoch ist.

Um den Wertschöpfungsverlust als Folge des ICT-Fachkräftemangels zu bestimmen wurde folgendes Vorgehen auf Basis der ICT-Fachkräfteprognose 2030 gewählt:

Aggregiert man nun diesen Wertschöpfungsverlust für alle Jahre bis zum Jahr 2030, so kann die Schweiz Wertschöpfung im Wert von bis zu 31.1 Mrd. CHF nicht realisieren. Dies entspricht der Wertschöpfung, welche heute die ganze Versicherungsbranche (30.8 Mrd. CHF) in einem Jahr erwirtschaftet.

Dieser Wertschöpfungsverlust ist eher als obere Grenze anzusehen. Einerseits ist es denkbar, dass es gelingt, noch deutlich mehr ICT-Fachkräfte als bisher aus dem Ausland zu rekrutieren und andererseits könnten die verstärkten Ausbildungsanstrengungen der ICT-Berufsbildung Schweiz gegebenenfalls bereits etwas früher schon Erfolge erzielen.

2.2 Entwicklung der ICT-Beschäftigung im internationalen Vergleich

Erfreulicherweise wächst das Berufsfeld ICT seit Jahrzehnten rund dreimal so schnell wie die Gesamtbeschäftigung in der Schweiz (vgl. Abb. 2). Das ist sowohl mit Blick auf die Digitalisierung als Megatrend als auch mit Blick auf die Löhne als Wertschöpfungstreiber eine gute Nachricht. Auch bedeutet dies, dass es der Schweiz gelingt, gewisse Wachstumschancen zu nutzen. Um das Ausschöpfen von Wachstumspotenzialen beurteilen zu können, lohnt es sich, die Entwicklung anderer europäischer Länder zu betrachten.

Betrachtet man nun das europäische Ranking von Eurostat für 2021, so nimmt die Schweiz mit einem
Anteil von 5.5 Prozent der Erwerbstätigen, was den ICT-Beruf betrifft, den 9. Platz ein. Sie erreicht nur
Platz 10, wenn davon ausgegangen wird, dass das Vereinigte Königreich seinen Anteil gegenüber 2019
mindestens halten konnte. Es liegen diesbezüglich jedoch keine Daten für 2021 vor. Angesichts der 35
betrachteten Länder ist dies ein Rang im vorderen Mittelfeld (vgl. Tab. 2 im Anhang für Details). Auch stieg der Anteil gegenüber 2013 von 4.8 Prozent um 0.7 Prozentpunkte. Damals war die Schweiz jedoch das Land mit der vierthöchsten ICT-Affinität der Tätigkeiten, hinter Finnland, Schweden und dem Vereinigten Königreich.

In Abb. 3 wird der Grund auf Basis ausgewählter Länder deutlicher: Alle dargestellten Länder wurden digitaler, viele aber stärker als die Schweiz. Der Spitzenreiter Finnland war das Land mit dem geringsten
Bedeutungszuwachs in diesem Zeitraum, aber er startete von Platz 1 aus und erhöhte den Anteil trotzdem noch mehr als die Schweiz: 1.1 Prozentpunkte. Schweden konnte mit einem Zuwachs um 2.3 Prozent an der Gesamtbeschäftigung gar Platz 1 erobern. Portugal liegt zwar noch hinter der Schweiz, wird aber als Volkswirtschaft mit Blick auf die ausgeübten Tätigkeiten in gleicher Geschwindigkeit digitaler wie Schweden und könnte die Schweiz somit in ein paar Jahren einholen.

Interessant ist auch der Vergleich mit Irland und den Niederlanden. Beide Länder hatten 2013 den gleichen Anteil ICT-Beschäftigter an der Gesamtbeschäftigung von 4.7 Prozent und damit eine fast identische Ausgangslage wie die Schweiz (4.8 Prozent). Die Entwicklung dieser drei Länder war bis 2017 noch fast gleich, danach legten aber zuerst die Niederlande und ab 2019 auch Irland deutlich stärker zu, sodass die beiden Länder nun 0.8 bzw. 1.2 Prozentpunkte vor der Schweiz liegen.

Die beobachtete Entwicklung ist langfristig problematisch, da ICT-affinere Länder bessere Chancen haben, ICT-Cluster zu entwickeln und sich die bisherigen Tendenzen infolgedessen verstärken können. Es sinkt – relativ zu anderen Ländern – auch der Pool an verfügbaren ICT-Fachkräften, was die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz in Bezug auf digitale Themen schwächt.

2.3 Effekt des ICT-Fachkräftemangels auf die Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit

Die aufgezeigte Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit wird sich mit der Zeit auch in den Rankings zur
digitalen Wettbewerbsfähigkeit niederschlagen. Wie, in welchem Umfang und welche Massnahmen dagegen wichtig sind, wird in diesem Kapitel erörtert.

Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit werden von verschiedenen Institutionen erstellt. Zu den renommiertesten gehören der Global Competitiveness Index des World Economic Forum (WEF), das World Competitiveness Ranking der IMD Business School oder der Global Competitiveness Index der World Bank. In Bezug auf die digitale Wettbewerbsfähigkeit ist das World Digital Competitiveness Ranking (WDCR) der IMD Business School das renommierteste. Der Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) wäre inhaltlich auch ein interessantes Mass, er wird jedoch von der Europäischen Kommission erstellt und vergleicht nur die EU-Länder ohne die Schweiz.

Um zu verstehen, wie sich die gemessene digitale Wettbewerbsfähigkeit verändert, ist es wichtig, die
methodischen Grundlagen kurz darzulegen. Das WDCR besteht aus drei Säulen: «Knowledge», «Technology» und «Future Readiness». Hier schliesst die Schweiz im neuesten Report auf den Rängen 1, 11 und 3 ab, was zum Gesamtrang 6 führt. Jede Säule besteht nochmals aus drei Subindizes, welche auf vier bis sieben Indikatoren fusst. Alle Säulen und Subindizes fliessen mit gleichem Gewicht ein. Die Indikatoren verteilen sich ungefähr hälftig auf «harte» statistische Fakten und «weiche» Umfrageergebnisse bei Führungskräften.

Die Säule «Technology» des WDCR sollte aus Sicht der Schweiz nicht überbewertet werden, da sie einige Indikatoren beinhaltet, welche auf spezifische Eigenheiten der Schweiz zurückzuführen sind. Beispielsweise findet sich die Schweiz beim Indikator «High-tech exports (%)» nur auf Rang 31, was leicht durch die Dominanz der Life-Sciences-Industrie beim Export erklärt werden kann. Oder auch die Verfügbarkeit bzw. Abdeckung mit mobilem schnellem Internet berücksichtigt die Topografie der Schweiz nicht.

Die Säule «Future Readiness» des WDCR ist per se wichtiger, jedoch geht es hier mehr um Themen, welche das digitale Zusammenleben von Staat und Bürger bzw. Staat und Wirtschaft betreffen. Der ICT-Fachkräftemangel fliesst in diesem Zusammenhang nur indirekt in Indikatoren ein, welche zum Beispiel die Agilität der Unternehmen betreffen.

Die Säule «Knowledge» des WDCR hingegen besteht aus drei Subindizes, welche alle mit dem Thema ICTFachkräftemangel verknüpft sind: «Talent», «Training and Education» sowie «Scientific Concentration». Ein Vergleich ist in diesen Subindizes vor allem mit den europäischen Spitzenländern (Schweden #3, Dänemark #4) interessant, da die anderen Spitzenländer entweder deutlich grössere (USA #1) oder weniger gut vergleichbare Strukturen aufweisen (Hong Kong #2, Singapur #5).

Alle drei europäischen Länder verfügen über beträchtliches Verbesserungspotenzial im Hinblick auf die
Gewinnung von Frauen für MINT-Themen bzw. MINT-Themen allgemein («Women with degrees», «Female researchers», «Graduates in Sciences»), wenn man die Anzahl der Publikationen im Verhältnis zu den investierten Mitteln zugrunde legt.

Sehr positiv zu werten ist, dass die Schweiz nicht nur in Kategorien gut abschliesst, in welchen sie dank
des hohen Kapitalstock fast immer gut abschneidet (z.B. «Total expenditure on R&D (%)» bzw. indirekt
«Total R&D personnel per capita»), sondern auch in den Indikatoren «Employee training» und «Scientific and technical employment». Der erste Indikator ist eine Umfrage dazu, wie wichtig die Weiterbildung der
Arbeitnehmenden in Schweizer Firmen ist, während der zweite Indikator sich generell auf MINT-Tätigkeiten bezieht, wobei hier unter anderem auch die starken Life-Sciences ins Gewicht fallen.

Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Verbesserungspotenzial bei der Zahl an MINT-Absolventinnen und MINT-Absolventen auf der einen und den hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf der anderen Seite löst sich auf, wenn die beiden Indikatoren betrachtet werden, in welchen die Schweiz auf Rang 1 liegt: «International experience» und «Foreign highly-skilled personnel». Die Schweiz vermag noch immer hochqualifizierte ICT-Fachkräfte aus dem Ausland zur rekrutieren. Bei der Verfügbarkeit von digitalen Kompetenzen auf dem lokalen Arbeitsmarkt sehen die befragten Führungskräfte aber die Schweiz nur noch auf Rang 11, während Schweden und Dänemark auf den Rängen 2 bzw. 3 liegen.

Damit ist auch eine zentrale Stärke der Schweiz als kleine offene Volkswirtschaft aufgezeigt. Der Zugang
zu ausländischen ICT-Spezialisten muss auf jeden Fall politisch weiter gewährleistet werden. 12 Prozent
der ICT-Beschäftigten sind im Jahr 2021 im Zeitraum 2017 bis 2021 zugewandert, während dies, auf alle
Berufe in der Schweiz bezogen, nur für 7 Prozent galt (vgl. Abb. 4).

Zu beachten gilt es aber, dass die Arbeitsmärkte im europäischen Ausland für Arbeitskräfte aus den jeweiligen Ländern immer attraktiver werden (vgl. Kap. 2.2). Dadurch wird es trotz höheren Lohnniveaus in Zukunft schwieriger, internationale ICT-Fachkräfte zu rekrutieren.

2.4 ICT-Fachkräftemangel und die «Tragik der Allmende»

Angesichts dieser Ausgangslage und auch unter Berücksichtigung des Problems, dass die Bildungszyklen länger dauern und mit dem grossen Beschäftigungswachstum nicht mithalten können, mag es erstaunen, dass die Unternehmen sich nicht noch mehr engagieren. Zwar ist die Berufsbildung in der ICT etabliert, die Lehrstellen wachsen kontinuierlich an und die Löhne steigen, und doch werden nicht genügend Lehrstellen angeboten. Diese sind essenziell, da die ICT-Lehrabsolventen in grosser Zahl danach auch eine Tertiärausbildung anstreben (mehr dazu in der in Kürze publizierten Fachkräftestudie der ICT-Berufsbildung Schweiz).

Ein gewichtiger Grund für den Mangel an ICT-Lehrstellen ist die sogenannte «Tragik der Allmende». Damit wird in der Ökonomie das Problem beschrieben, dass es zwar ein soziales Optimum gibt, wovon alle profitieren, dass aber die Abweichung von der benötigten gemeinsamen Strategie profitabler ist. Konkret bedeutet dies: Es wird für Unternehmen interessanter,sich aus der Grundbildung (etwas) zurückzuziehen, je mehr sich andere Unternehmen engagieren, da sie selbst auch vom Engagement anderer Firmen profitieren.

Die Politik hat mit der Allgemeinverbindlicherklärung von Berufsbildungsfonds ein Instrument geschaffen, das diesem Problem Einhalt zu gebieten vermag. Die Allgemeinverbindlicherklärung bewirkt nämlich, dass auch Betriebe in die (finanzielle) Verantwortung genommen werden, welche sich nicht (ausreichend) an der Berufsbildung beteiligen.

Die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Berufsbildungsfonds umfassen vier Aspekte:
• Einhaltung der Quoten (mindestens 30 Prozent der Betriebe der Branche mit mindestens 30 Prozent
der Arbeitnehmenden beteiligen sich bereits finanziell an Berufsbildungsfonds)
• eigene Bildungsinstitution
• Beiträge müssen den branchentypischen Berufen zugutekommen
• Beiträge müssen allen Betrieben der Branche zugutekommen
Die Querschnittsfunktion der ICT verunmöglicht jedoch eine solche Lösung, da der Organisationsgrad
nicht erreicht werden kann, da sich die ICT-Berufe in allen Branchen finden. Daher wäre auch zu überlegen, ob es hier eine direkte staatliche Unterstützung bräuchte.

Fazit

Es konnte aufgezeigt werden, dass die Fachkräfteprognosen der vergangenen Jahre jeweils zu konservativ ausfielen: Das Wachstum des Berufsfelds ICT übertrifft jeweils die Vorhersagen. Auch die Bemühungen der ICT-Berufsbildung Schweiz,zusammen mit der Wirtschaft zusätzliche Lehrstellen zu schaffen, fruchten zwar, sie können aber mit dem Wachstum des Berufsfelds nicht mithalten und so schliesst sich die Fachkräftelücke bis auf Weiteres nicht.

Ausbildungsseitig verhindert ferner die «Tragik der Allmende» zusätzlich, dass ausreichend Lehrstellen geschaffen werden. Das Instrument dagegen (Allgemeinverbindlicherklärung eines ICT-Berufsbildungsfonds) kann jedoch von der ICT nicht genutzt werden, weil das Einsatzgebiet der ICT-Beschäftigten die ganze Schweizer Volkswirtschaft umfasst.

Das grosse Wachstum an ICT-Beschäftigen führt zu einer immer stärker digitalisierten Wirtschaft. Gleichzeitig verliert die Schweiz gegenüber anderen europäischen Ländern an Boden. Länder wie Irland oder die Niederlande waren 2013 bezüglich des Anteils an ICT-Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung noch gleichauf und liegen nun deutlich vor der Schweiz. Dieser Rückstand kann sich leider selbst verstärken, wenn sich in anderen Ländern weitere ICT-Cluster bilden.

Die relative Stärkung der europäischen Länder bedroht auch einen der zentralen Gründe für die hohe
Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz: die Zuwanderung von Fachkräften. Je attraktiver der heimische Arbeitsmarkt wird für ICT-Spezialisten, desto weniger Anreiz existiert, das Heimatland zu verlassen, trotz
eines weiterhin in der Schweiz vorhandenen hohen Lohnniveaus.

Diese langfristige Schwächung der digitalen Wettbewerbsfähigkeit ist real, wird aber durch die internationalen Rankings bis auf Weiteres nicht adäquat reflektiert, da diese auf diesen Aspekt nicht so sensitiv reagieren. Was das IMD World Digital Competitiveness Ranking in der Detailanalyse aber deutlich hervorbringt, ist das grosse Potenzial, über das die Schweiz im Fall der Frauen in der ICT noch verglichen mit anderen Ländern verfügt.

Insgesamt betrifft der ICT-Fachkräftemangel nicht nur alle Branchen, weil sie alle ICT-Spezialisten beschäftigten, sondern auch, weil bis zum Jahr 2030 eine Bruttowertschöpfung im Wert von maximal 31.1 Mrd. CHF nicht realisiert werden kann, die den Wohlstand der ganzen Schweiz heben würde. Dies entspricht der gesamten Wertschöpfung der Versicherungsindustrie in einem Jahr.

Anmerkungen

1 B,S,S. (2010), Econlab (2012, 2014), IWSB (2016, 2018, 2020, 2022).
2 Es handelt sich um die folgenden NOGA-Codes: 26.1-26.4, 26.8 (Herstellung von ICT-Gütern), 46.5 und 58.2 (Vertrieb von ICT), 61 (Telekommunikation), 62 und 63.1 (IT-Dienstleister), 95.1 (ICT-Reparatur). Vgl. www.kubb2008.bfs.admin.ch.
3 Es handelt sich um die folgenden CH-ISCO-19-Codes: 13300, 21520, 21530, 21660, 23560, 24340, 250, 251, 252, 351, 35210, 35220, 74220.
4 Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik.
5 Die aktuellen Zahlen zur Wertschöpfung sind aus dem Jahr 2019.

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Anhang

Die Fachkräfteprognosen der vergangenen Jahre fielen jeweils zu konservativ aus: Das ICT-Berufsfeld der Schweiz wächst schneller als gedacht. Trotzdem verliert die Schweiz im internationalen Vergleich an Boden.

Die von digitalswitzerland herausgegebene Studie „Opportunitätskosten des ICT-Fachkräftemangels“ zeigt: Das im Vergleich mit umliegenden Ländern schwächere Wachstum der Schweizer ICT-Branche führt langfristig zu einer Abnahme der Standortattraktivität für ausländische Fachkräfte, was mittelfristig ernste Konsequenzen nach sich ziehen kann. Was diese Konsequenzen sind und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus für Wirtschaft, Politik und Bildung ergeben, verrät die Studie.

Die Studie wurde erstellt vom Institut für Wirtschaftsstudien Basel IWSB im Auftrag von digitalswitzerland.

Lesen Sie die vollständige Studie auf Deutsch.

Bern, 25. Januar 2022 – Viele Schweizer Firmen suchen derzeit wieder händeringend nach Fachkräften. Mit einer gezielten Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes soll ein Beitrag geleistet werden, indem ausländische Absolventinnen und Absolventen von Schweizer Hochschulen in Gebieten mit ausgewiesenem Fachkräftemangel künftig unkomplizierter in der Schweiz angestellt werden können. Ermöglicht hat dies eine Motion von FDP-Nationalrat und digitalswitzerland-Vizepräsident Marcel Dobler.

Aktuelle Erhebungen zeigen, dass sich der Fachkräftemangel in der Schweiz wieder akzentuiert. Besonders betroffen sind altbekannte Disziplinen wie Ingenieurwesen, Humanmedizin und Pharmazie sowie Technik und natürlich auch die Informatik [1]. Der akute und zunehmende Fachkräftemangel im ICT-Berufsfeld ist seit Jahren bekannt und ausgewiesen [2]. Neben grossem Effort bei der Aus- und Weiterbildung soll nun mit einer gezielten Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) ein weiterer Beitrag zur Entschärfung geleistet werden.

Künftig sollen in der Schweiz ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen aus Drittstaaten in Bereichen mit ausgewiesenem Fachkräftemangel unbürokratischer in der Schweiz bleiben können. Sie sollen nicht mehr unter die Kontingente fallen – was vor allem für wirtschaftsstarke Kantone, deren Kontingente in der Regel früh ausgeschöpft sind [3], wichtig ist. Dies fordert die Schweizer Digitalwirtschaft seit Jahren und FDP-Nationalrat Marcel Dobler verlangte bereits 2017 mit einer Motion regulatorische Anpassungen. Für Dobler steht fest: «Wenn wir in der Schweiz teure Spezialistinnen und Spezialisten ausbilden, sollen sie anschliessend auch hier arbeiten können. Durch ihre Studienzeit sind sie gut integriert und können sich als gesuchte Fachkräfte sofort in Unternehmen einbringen.» Mit einer Änderung von Art. 30 des AIG, das sich noch bis am 10. Februar in der Vernehmlassung befindet, soll die Motion nun umgesetzt werden.

Stefan Metzer, Managing Director von digitalswitzerland, begrüsst die Vorlage und fordert eine rasche Umsetzung auf Stufe der Verordnung und in der Praxis. Er selbst musste bereits auf Anstellungen verzichten: «Vor einigen Jahren wollten wir einen Top-Absolventen der Universität St. Gallen anstellen. Leider hat es aus bürokratischen Gründen nicht geklappt. Heute arbeitet dieser in Deutschland und wird wohl kaum den Weg zurück in die Schweiz finden.» Gerade in hochinnovativen Berufen mit Fachkräftemangel sei dies verheerend. Die Schweiz investiere in die Ausbildung, ohne dass der Schweizer Arbeitsmarkt davon bestmöglich profitieren kann. Viele junge Talente trieben zudem bereits während ihres Studiums bei Start-ups innovative Projekte voran. Dies sei genau die Art von Innovation, welche die Schweiz brauche.

Vernehmlassung zum AIG: Zur vollständigen Stellungnahme von digitalswitzerland

Medienkontakt:
Andreas W. Kaelin, digitalswitzerland, Geschäftsstelle Bern
Tel. +41 31 311 62 45 │ andreas@digitalswitzerland.com


[1] Fachkräftemangel-Index Schweiz – Universität Zürich: https://www.stellenmarktmonitor.uzh.ch/de/indices/fachkraeftemangel.html

[2] Siehe ICT-Fachkräfte-Studie 2020 von ICT-Berufsbildung Schweiz: https://www.ict-berufsbildung.ch/index.html?id=82&nid=54.

[3] Aufgrund der Corona-Krise konnten die Kontingente in den vergangenen Jahren ausnahmsweise nicht ausgeschöpft werden.

digitalswitzerland freut sich, die neue Publikation von AMOSA (Arbeitsmarktbeobachtung Ostschweiz, Aargau, Zug und Zürich) über Quereinsteiger:innen vorzustellen, die sich für eine Um- oder Weiterqualifizierung in ICT-Berufe entscheiden. digitalswitzerland kommt zum Schluss, dass Quereinsteiger:innen ein wichtiges Segment des ICT-Arbeitsmarktes sind, dem mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.

Das Problem des Fachkräftemangels der ICT-Branche wird sich nicht von selbst lösen neue Formen des Berufseinstiegs sind gefragt! Dabei sind Quereinsteiger:innen von grosser Bedeutung, wie eine neue Untersuchung von AMOSA zeigt.

Im Jahr 2020 waren in der Schweiz rund 243’000 Personen in ICT-Berufen beschäftigt. Seit 2010 hat die ICT-Branche ein beeindruckendes Wachstum von rund 50 % verzeichnet, verglichen mit einem durchschnittlichen Wachstum von nur 10 % in allen anderen Berufsgruppen. Trotz dieses enormen Wachstums besteht eine hohe Nachfrage nach ICT-Fachkräften.

Gemäss aktuellen Prognosen des Instituts für Wirtschaftsstudien (IWSB) kann der künftige Bedarf an ICT-Fachkräften weder durch Zuwanderung noch durch das Schweizer Bildungssystem gedeckt werden.

Es ist klar: Quereinsteiger:innen sind gefragt. Um einen zukunftsfähigen Weg für einen erfolgreichen Übergang in einen wachsenden ICT-Sektor zu schaffen, ist eine Betrachtung der Kennzahlen sinnvoll.

Hoher Anteil an Quereinsteiger:innen in ICT-Berufe

Berufliche Neuorientierungen in der ICT-Branche sind erstaunlich häufig. Nur einer von drei ICT-Fachleuten hat seine Laufbahn ursprünglich im selben Beruf begonnen. Während einige von ihnen aus verwandten ICT-Berufen kamen, begann fast die Hälfte der ICT-Fachleute ihre berufliche Laufbahn ausserhalb des ICT-Sektors.

Die Bedeutung dieser Zahlen zeigt sich im direkten Vergleich mit anderen Berufen, welche ebenfalls von Fachkräftemangel betroffen sind: Unter den 25 Berufen mit dem höchsten Fachkräftemangel erreicht der Anteil der Quereinsteiger nur gerade 37 Prozentpunkte. Das zeigt zweierlei: Erstens ist und bleibt die ICT ein zukunftsträchtiger Sektor. Zweitens stehen die Türen in der ICT offen und die Profile sind divers!

Grosse Variabilität zwischen den ICT-Berufen

Obwohl die berufliche Mobilität in den ICT-Berufen im Vergleich zu anderen Berufen weit verbreitet ist, gibt es dennoch erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen ICT-Berufen: Berufswechsel sind heute beispielsweise bei Ausbildern im Bereich der Informationstechnologie (Anteil der Quereinsteiger: 93 %), den Führungskräften im Bereich der ICT-Dienstleistungen (91 %) oder den Technikern für den Betrieb von ICT und für die Anwenderbetreuung (86 %) sehr verbreitet. Dagegen verbleiben Grafik- und Multimediadesigner vergleichsweise häufiger im ursprünglich erlernten Beruf  nur 42 % sind Quereinsteiger.

Woher kommen die Quereinsteiger:innen?

Bei den Quereinsteigern lässt sich eine auffallende Vielfalt der ursprünglichen Berufe beobachten.

Abgesehen von den Arbeitnehmern, die zunächst in einem anderen ICT-Beruf ausgebildet wurden, hat ein beträchtlicher Anteil der heutigen Software- und Anwendungsentwickler oder -analysten ihre berufliche Laufbahn zunächst in verwandten technischen Bereichen begonnen, beispielsweise als Ingenieur (13 %) oder Elektroinstallateure und -mechaniker (3 %), aber auch in nicht-technischen Berufen als Bürokaufmann/-frau (3 %) oder Fachkraft in der betrieblichen Verwaltung (3 %).

Unter denjenigen, die jetzt als Techniker für den Betrieb von ICT und für die Anwenderbetreuung arbeiten, sind Übergänge aus anderen ICT-Berufen weit verbreitet: Viele Arbeitnehmer:innen erlernten ursprünglich einen Beruf im Bereich der Software- und Anwendungsentwickler oder -analytiker (10 %) oder als andere ICT-Fachleute (8 %). Aber auch Berufswechsel aus nicht-technischen Berufsfeldern wie Bürokaufmann/-frau (9 %) oder Verkäufer:in (3 %) kommen relativ häufig vor.

Ein erheblicher Teil dieser Berufswechsel sind Übergänge aus Berufen mit ähnlichem Qualifikationsniveau und erfordern eher eine Umschulung als eine Höherqualifizierung. Aber auch Übergänge von Berufen mit niedrigerem oder höherem Qualifikationsniveau sind nicht ungewöhnlich insbesondere bei denjenigen, die heute als Techniker für den Betrieb von ICT und für die Anwenderbetreuung arbeiten.

Fakt ist: Durch gezielte Um- oder Weiterqualifizierung können sich auch für weniger qualifizierte Mitarbeiter neue Wege in die Informatik eröffnen!

Wichtige Faktoren: Geschlecht und Alter

Während ältere Altersgruppen und Frauen in ICT-Berufen (noch) unterrepräsentiert sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus fachfremden Berufen in diesen Bereich gekommen sind, höher als bei jüngeren Altersgruppen und Männern.

Dies ist ein Indiz für die Dringlichkeit von Frauenförderung im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Denn offensichtlich können Frauen auch aus fachfremden Berufen für die Informatik gewonnen werden: das Quereinsteigerinnen-Potenzial in der Schweiz ist also hoch. Mit gezielter Förderung der Mädchen im Bereich MINT könnte dieses Potenzial bereits früher abgeschöpft werden aus Quereinsteigerinnen werden Einsteigerinnen!

Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen lassen sich vor allem dadurch erklären, dass ältere Arbeitnehmer länger im Erwerbsleben stehen und daher mehr Zeit für eine Neuorientierung und Weiterbildung haben. Ausserdem könnten die Hürden für Quereinsteiger in den letzten Jahren aufgrund spezifischerer und höherer Arbeitsplatzanforderungen gestiegen sein.

Lebenslanges Lernen wird dadurch umso wichtiger. Die Zahlen zeigen: Die Nachfrage ist gross, aber das Potenzial ebenso. Ein Karrierewechsel ist machbar!

Wie unterstützt digitalswitzerland lebenslanges Lernen?

Die Förderung eines leistungsfähigen, digital kompetenten Arbeitskräftepotenzials ist der Kern unserer Aktivitäten. Bildung und lebenslanges Lernen sind dabei von zentraler Bedeutung. Wir setzen uns dafür ein, zugängliche Ressourcen für die allgemeine und berufliche Bildung bereitzustellen. Auch die Bedeutung von MINT für die qualifizierten Arbeitskräfte von morgen möchten wir betonen. Die Förderung von Lernenden aller Altersstufen ist ein wichtiger Teil unserer Mission, die Schweiz zu einem führenden digitalen Innovationsstandort zu machen. 

Die Angebote von digitalswitzerland wie die Plattform lifelonglearning.ch und das Boost-Programm bieten hierzu die nötige Unterstützung.

Weitere Informationen zu AMOSA und den neuesten Publikationen finden sie hier.

Weiterbildung findet nicht nur in der Schule statt. Im Rahmen des Schweizer Digitaltags haben bereits 12 Unternehmen ihren Mitarbeitenden bis zu 4 Stunden Weiterbildungszeit pro Woche versprochen. Das ist geschenkte Zeit, in denen neue Skills angeeignet oder bestehende geschärft werden können. Ist Ihr Unternehmen auch mit dabei? Hier können sich Unternehmen anmelden und symbolisch dazu verpflichten.

Die Digitalisierungsbranche litt unter den Krisen von 2001 und 2008. Im Jahr 2020 floriert sie. Aus Büroarbeit wird Remote Work. Papierbasierte Abläufe werden zu Online-Workflows. Fabriken und Lieferketten laufen dank der Automatisierung weiter. Wir sind dabei, einen 10-Jahres-Sprung in die Zukunft zu machen. Dies wird uns starke Produktivitätssteigerungen bescheren. Sogar unsere Covid-Kosten können wir auf diese Weise kompensieren.

Krisen erfordern Pionierleistungen und kein Schema F bei der Bewältigung

Im Frühjahr 2020 zirkulierte in der Tech-Branche ein Brief des Venture-Fonds Sequoia zur Covid-Krise. Es war «Schema F»: Erinnerungen an die Krisen 2001 und 2008 schwangen mit. Sequoia hat nahegelegt: Schliesst die Luken. Bereitet Euch auf den Sturm vor. Downsize.

Ich verstehe den Brief von Sequoia. Ich habe selbst von 1998 bis 2007 im Silicon Valley gelebt und gearbeitet und zwei Krisen durchgemacht. Die Dot-Com-Krise raffte im Silicon Valley fast alle Startups dahin. Strassen und Restaurants waren leergefegt, ähnlich wie in der Covid-Krise. Dazu kam der Schock von 9/11. Ich verliess meinen Arbeitgeber McKinsey & Co und sanierte ein Unternehmen. Ich verhandelte die Kostenbasis herunter, baute ein neues Produkt und zog Investitionen an.

Aus dieser Erfahrung heraus habe ich 2005 Zattoo gegründet. Ich machte Tempo. Unser Angebot stiess auf grosses Interesse. Wir bauten aus. Wir stellten ein. Wir waren eine kleine Sensation.

Die Finanzkrise 2008 kam unvermittelt. Alle Startups, nicht nur Zattoo, wurden ohne Vorwarnung getroffen, denn sie hatten nicht die Zeit, das Umfeld nach Makrobedrohungen zu scannen. Sie sind mit Nutzerwachstum, Produktdesign, Umsatzwachstum und dem Aufbau der Organisation vollends beschäftigt.

Da auf dem Markt kein Risikokapital mehr verfügbar war, habe ich im Januar 2009 sogar meine Wohnung in San Francisco verkauft, um die Content-Rechnung von Zattoo zu bezahlen. Das Geld lag etwa zwei Monate zwischen den USA und der Schweiz, da sich die Banken nicht mehr trauten. Ich konnte Aktien verpfänden, um Cash für die Firma aufzutreiben. Tamedia (jetzt TX Ventures) konnte ich überzeugen, einzusteigen. Mit Erfindergeist und Kostendisziplin konnten wir 2010 endlich Fuss fassen. Zattoo wuchs seitdem als KMU mit eigenen Mitteln jährlich etwa um 20-30%.

Nach der Überwindung dieser Krise habe ich den Verwaltungsrat von Zattoo aufgebaut. Ich habe mich als Präsidentin bis 2019 unter anderem der Aufgabe gewidmet, die Firma krisenresistent zu halten und Gefahrensignale mit Vorlauf zu erkennen. Ich habe Cash gehortet, um dem Unternehmen im Ernstfall helfen zu können. Die TX Gruppe hat im April 2019 die Mehrheit übernommen. Ich gab das Präsidium ab. Wir entwickeln die Gesellschaft gemeinsam weiter.

Als ich im Januar 2020 erstmals von Covid hörte, war ich zunächst verschreckt. Erinnerungen an 2001 und 2008 klangen an. Ich fragte mich: Wie kann Zattoo mit der drohenden Pandemie fertig werden? Es war zu erwarten, dass die Pandemie dazu führen würde, dass die Werbeindustrie ihre Ausgaben drosselt, verzögert, umbucht oder einstellt. Die Cloud-Systeme von Zattoo und der Telekommunikationsindustrie waren nicht darauf ausgelegt, über längere Zeiträume autonom zu laufen. Es waren sogar noch schlimmere Entwicklungen denkbar.

Ich befragte meine Bekannten, darunter eine Führungskraft von McKinsey&Co China im Februar 2020. Im Gespräch kamen wir auf einen prognostizierten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf -3 %, und das Schweizer BIP fiel tatsächlich auf etwa -3 %.  

Kurzfristig sah es noch bedrohlicher aus, aber es erholte sich im Laufe des Jahres 2020. Es erholte sich, weil wir dank Digitalisierung in der Lage waren, weiter zu arbeiten. Es gab keine Notwendigkeit für ein Notprogramm bei Zattoo oder vielen Tech-Unternehmen. Im Gegenteil: Die Tech-Branche boomte.

Digitalisierung als Lichtblick in einem dunklen Krisenjahr

Auf kurze Zeit gesehen werden Innovationen überschätzt. Die Dot-Com-Krise 2001 war sozusagen eine Krise der Ernüchterung. Langfristig aber werden Innovationen unterschätzt. Im Jahr 2020 haben wir dank der Digitalisierung soeben die erste Krise durchlebt, in der wir von Robotern weich gebettet wurden: ein Moment für die Geschichtsbücher.

Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Verteidigung, Finanzen, Verkehr und Energie waren im 2020 krisenresistenter dank Digitalisierung. Die Digitalisierung steht endlich in voller Blüte:

Die Pfeiler der Digitalisierung bilden Remote Work und Online-Workflows, die in der Cloud abgebildet werden, sowie der Online-Handel.

Die Cloud erlaubt gemeinsames Arbeiten an Briefen, Präsentationen, Tabellenkalkulationen und anderen Dingen. Sie entlastet uns von der Server-Administration und sorgt für eine bessere Lastverteilung und höhere Verfügbarkeit, als wenn wir die Server selbst administrieren würden.

Die Cloud wächst rasant. Büroarbeit wird zunehmend auf Google Docs oder mit Microsoft Office 365 in der Cloud erledigt. Privat nutzen inzwischen über eine Milliarde Menschen die Apple Cloud. Für alle Lasten, die elastisch oder schwankend sind, und für alle Werkstücke, die von mehreren Akteuren gleichzeitig bearbeitet werden, macht die Cloud Sinn.

Zattoo selbst bietet Beispiele für Cloud-Dienste: Anstatt Recordings lokal zu speichern, greifen unsere Zuschauer auf unsere Cloud zu. Von vielen Aufnahmen, die alle gleich wären, braucht es im Idealfall nur eine Masterkopie. Das spart Geld. Auch unsere B2B-Kundenbasis (Telekommunikations- und Kabelunternehmen) nutzt Cloud-Dienste: Statt TV-Signale von Satelliten über sogenannte Kopfstellen selbst einzuspeisen, nutzen sie unseren Cloud-Service. Von vielen Tausend Kopfstationen in Europa, welche alle ungefähr das Gleiche machen, wird es letztlich noch eine Handvoll in der Cloud brauchen. Da jede Kopfstation eine Investition von etwa 10 Mio. CHF und laufende Kosten verursacht, spart das eine Menge Geld. 

Online-Handel und Lieferdienste wachsen stark und nachhaltig. Haben Nutzer mit alten Gewohnheiten einmal gebrochen, ein Benutzerkonto eröffnet und online bestellt, ist es für sie ein Leichtes, den vorkonfigurierten Warenkorb nochmals zu bestellen. Hat man das neue Verhalten einmal eingeübt, bleibt man dabei. 

Digitalisierung kann unsere Covid-Kosten aufwiegen

Das BIP sank im Jahr 2020 um 25 Mrd. CHF; 2021 wird es steigen. Aus der Bundeskasse floss eine Kapitalspritze von 70 Mrd. CHF. Nehmen wir diese Summe als Massstab und ignorieren, wie dieses Geld aus der Wirtschaft wieder beim Staat landet, denn das tut es früher oder später. Prüfen wir, ob wir sie in 10 Jahren wettmachen können: Das entspräche 7 Mrd. CHF pro Jahr, oder 1% des Bruttosozialprodukts in der Schweiz von ca 700 Mrd. CHF.

Das geht: Bei angenommenen 700’000 Mitarbeitenden in Remote Work macht das 10’000 CHF pro Kopf und Jahr. Einsparungen können wir in diesen Bereichen erzielen:

Für die Schweiz kann Remote Working die Rettung aus unserer geografischen Enge sein. Angestellte können in der ganzen Schweiz oder auch im Ausland geografisch verteilt sein. Wir brauchen uns bei der Rekrutierung nicht mehr auf einen 100km Kreis um den Arbeitsplatz zu beschränken. Remote Work öffnet einen grösseren Kandidatenpool für die Rekrutierung und fördert Diversität und Spezialisierung. Damit wird es auch günstiger, in der Schweiz ein Startup zu gründen.

Remote Work erhöht die Mitarbeiterzufriedenheit. Deloitte-Schweiz Studien aus den Jahren 2020 und 2021 zeigen: Mitarbeiter wollen mehrheitlich hybrid arbeiten und keinesfalls die Vorteile des Remote Working aufgeben. Mitarbeiter hatten erheblichen Zeitverlust beim Pendeln – diese Last wollen sie nicht mehr tragen. Sie geniessen die Freiheit, an Orten mit niedrigen Kosten und hoher Lebensqualität zu arbeiten – das eröffnet neue Perspektiven. Sie sparen Zeit durch weniger obligatorische Geschäftsreisen. Frauen erleichtert Remote Work den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt durch die Möglichkeit, ihre Zeit gleitend zwischen Büro und Zuhause aufzuteilen.

Die Präferenzen betreffend Remote Work liegen nicht über alle Altersgruppen gleich, und sie unterscheiden sich auch zwischen Industrien und Ländern. In Japan ist der Verlust der Präsenzkultur eine grosse Herausforderung. Eine Anekdote aus Japan wurde mir zugetragen: Sagt der Chef «Was kann ich mit den zwei Assistenten machen? Darf ich sie nach Hause nehmen?» Dieser Chef hatte noch nie eine Videokonferenz von zu Hause organisiert. Das wurde immer im Büro von Spezialisten erledigt. Für traditionelle Chefs ist Remote Work eine Herausforderung.

Die IT-Branche ist Vorreiter bei Remote Work – andere Branchen ziehen nach

Es gab auch schon andere Zeiten: 2013 versuchte die damalige Chefin von Yahoo, Marissa Mayer, die Mitarbeiter von Remote Work wegzubringen. Innovation, meinte sie, geschieht im Dampfkochtopf des Entwicklungszentrums von Yahoo im Silicon Valley. Sie sah Innovation als Kontaktsport. Innovation ist inzwischen online möglich, weil die Arbeitsmittel besser geworden sind.

Die IT-Branche ergreift inzwischen die Chance, den Mitarbeitern mit Remote Work attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten. Sie ist mit Abstand am besten darauf vorbereitet. Andere Branchen entdecken nun auch: Remote Work funktioniert. Die Sicherheit ist besser als befürchtet. Aus dem Private-Banking ist bisher kein Skandal bekannt.

Corona hat mehr getan, um die Digitalisierung der Schweiz zu beschleunigen, als alle digitalen Initiativen, die wir bisher hatten. Von vielleicht 10’000 Remote Work-Arbeitsplätzen in der Schweiz vor der Covid-Krise haben wir einen Sprung auf über 1 Million Remote Work-Arbeitsplätze gemacht (bei einer Gesamtbelegschaft von fast 5 Millionen). Wenn wir von 700’000 solcher Arbeitsplätze über die nächsten 10 Jahre sprechen, verstehen wir die Grössenordnung des Wandels. 

Die Initiative digitalswitzerland, die Wissenschaftsinitiative CH++,  Open Data Schweiz, der Branchenverband ASUT und weitere können uns helfen, den Schwung aus der Covid-Digitalisierung mitzunehmen. Sie können mit Inspiration und Know-how-Transfer zum Florieren der Schweiz beitragen.

“Culture eats Strategy for breakfast”

Wir kennen das: eine clevere Strategie wird verkündet, und wir foutieren uns darum, weil wir es anders mögen. Macht unsere Macht der Gewohnheit nun die Vorteile der COVID-Digitalisierung zunichte? Kehren wir zu Feld 1 zurück?

Beginnen wir mit uns selbst. Wir haben gelernt, wie man sich im Home-Office organisiert. Ideal wäre ein Zoom-Raum. Wir haben gelernt, Essen zu kochen, Samen zu pflanzen, Brot zu backen. Ideal wäre ein eigener Garten. Wir reisen mehr individuell, weniger in Gruppen. Ideal wäre ein Camper.

Wir improvisieren in der Art und Weise, wie wir unterrichten. Ideal wäre ein altersgerechter Mix aus Präsenz- und Online-Unterricht:

Vielleicht sagen wir uns: «mein Aktiendepot ist gestiegen, meine Immobilie ist jetzt mehr wert, ich brauche mir die neue Arbeitswelt nicht mehr anzutun.» Oder wir wurden ruiniert und können nicht mehr. Durch die Covid-Krise scheiden vor allem ältere Arbeitnehmer aus dem Berufsleben aus. 

Damit wir die Vorteile der Digitalisierung nutzen können, müssen wir uns von der Gewohnheit verabschieden, in altmodische Büros zurückzukehren, in denen wir Kopfhörer tragen, um konzentriert zu arbeiten. Lasst uns stattdessen Büros neu erfinden und die Möglichkeit des Remote Working nutzen, die uns in der Covid-Krise gut gedient hat. 

Über Bea Knecht

Bea Knecht digitalisiert mit ihren Gründungen Zattoo, Genistat und Levuro Mediendienstleistungen. Genistat beschäftigt Experten für Media Data Science. Levuro beschäftigt Experten für Social Media Engagement. Wingman ist ein VC Fonds, den sie unterstützt: Von Unternehmern, für Unternehmer. Bea Knecht wirkt im Vorstand der Gesellschaft für Marketing und von CH++ und ist Mitglied der Eidgenössischen Medienkommission. Sie ist Empfängerin des IAB Lifetime Award, des Best of Swiss Web Award und des Emmy Award.